Die Wut auf den Tod
Wütend zu sein schickt sich nicht. Angepasstes Sozialverhalten sieht nun einmal anders aus. Trotzdem reagieren manche Menschen auf gewisse Umstände cholerisch, um ihren Willen durchzusetzen oder einfach nur aus purer Rücksichtslosigkeit. Wut wird aber durchaus auch zur Demonstration von Macht oder Auflehnung eingesetzt. Wie bei allen anderen Grundemotionen gibt es eine Vielzahl von Ursachen und Auslösern, etwa Neid, Frustration, Empörung, Eifersucht oder Hass.
Und dann gibt es noch zwei ganz andere Ursachen für Wut: Angst und Trauer. In dieser Verzweiflung wird Wut zur Suche nach einem Ventil, wenn dem Druck anders einfach nicht mehr standzuhalten ist. Dennoch werden Wut und Zorn allgemein als Aggression wahrgenommen und als solches vom sozialen Umfeld meistens nicht geduldet. Ein Dilemma für jene, die um einen verstorbenen Menschen trauern und keinen anderen Ausweg für sich im Umgang mit diesen bedrückenden Emotionen finden.
Die Therapeutin Klaudia Fleck berichtet etwa von einer betroffenen Familie. Der Patient, ein Landwirt Mitte vierzig, war schon sehr schwer krank. „Seine Frau saß links neben seinem Bett und eine unheimliche Spannung war spürbar. Ich machte es zum Thema und fragte nach, wo die Gründe dafür liegen. Aus der Frau platzte es so richtig raus. Sie finde die ganze Situation unverschämt und ärgere sich so sehr über ihren Mann und seine schwere Erkrankung. Sie sei wütend, dass er sterben wird und sagte ihm die Meinung. Auch, wie sauer sie auf ihn sei“, so Frau Fleck.
Der Patient war ebenfalls zornig auf seine Krankheit. Er ließ seine Frau und die Therapeutin wissen, wie unglaublich ungerecht er sein Schicksal empfand. Ihr ganzes Leben lang hatte das Ehepaar hart gearbeitet. Die gemeinsame Tochter absolvierte zum Zeitpunkt des Auftretens der Krankheit gerade den letzten Abschnitt ihrer Ausbildung zur Lehrerin. Der Sohn war in das richtige Alter gekommen, um die Landwirtschaft übernehmen zu können. „Das Ehepaar war froh über die zukünftigen Aussichten gewesen. Sie hatten vereinbart, wie die erste gemeinsame längere Spanne an Freizeit für eine Urlaubsreise genutzt werden sollte. Welches Ziel sie ansteuern wollten. Jetzt, wo sie es sich zeitlich zum ersten Mal hätten leisten können weg zu fahren. Und dann kam die Krankheit. Da war einfach so viel Wut und durch diese Wut kamen sie dann zu einer gemeinsamen Trauer“, erklärt Klaudia Fleck. Diese Gefühle durften einen Platz einnehmen. „Auch, wie die Ehefrau auf ihren eigenen Mann eingeschimpft hatte. Er konnte das so gut annehmen und dann begannen sie damit, die Trauer miteinander zu leben.“ Was dabei entstanden sei, habe es leichter gemacht. Trauer und Wut konnten geteilt und gemeinsam aufgearbeitet werden.
Wichtig sei es, nach Meinung der Therapeutin, die Befindlichkeiten keinesfalls auszuklammern. „Am schlimmsten ist es, wenn die Leute nicht über ihre Wut sprechen. Sie denken, man darf darüber nichts sagen und so passiert es häufig, dass man sie spürt, die Menschen aber nicht darüber kommunizieren.“ In vielen Situationen bleibe dann eine ungute Stimmung. Menschen stritten, Kranke beschwerten sich über schlechtes Essen und man nörgle an zahlreichen, eigentlich belanglosen Dingen herum. In Wirklichkeit stehe oft Verzweiflung dahinter. Die Therapeutin dazu: „Die Betroffenen wissen das aber selber nicht, manchmal ist es ihnen scheinbar gar nicht bewusst.“
Ebenso, wie generell über das Sterben, werde nach den Erfahrungen der Ärztin Dr. Maria Haidinger auch über die Hospiz-Betreuung noch viel zu wenig gesprochen: „Von einer Enttabuisierung zu sprechen, ist zu früh. Das Thema löst noch Ängste aus. Menschen meinen, bei ,Hospiz‘ gehe es immer um die letzten Tage, aber das Leben kann noch Monate oder Jahre dauern. In diesem wichtigen Lebensabschnitt steht nicht mehr die Heilung im Vordergrund! Es gilt körperliche und seelische Schmerzen zu lindern, Sorgen und Ängste der betroffenen Menschen wahrzunehmen. Diese Betreuung braucht Erfahrung, viel Wissen, Zeit und eine einfühlsame Kommunikation. Wir würden uns wünschen, dass viele Menschen früher den Weg zu uns finden.“
Eine medizinische Diagnose mit schwerwiegenden Folgen hinterlässt zunächst immer ein Gefühl der Ohnmacht, die sich später häufig in Wut verwandelt, wobei viele versuchen, dies nicht unbedingt nach außen dringen zu lassen. Elisabeth Helminger, die Seelsorgerin des Helga-Treichl-Hospizes in Salzburg (nunmehr Raphael Hospiz Salzburg), erkundigt sich bei schwerstkranken gläubigen Patienten manchmal, ob sie eigentlich böse auf Gott seien. Die meisten würden darauf mit einem „Warum?“ reagieren. Auf die Antwort: „Das könnte ich mir nämlich schon vorstellen, wenn ich in Ihrer Situation wäre“ folge häufig die Gegenfrage: „Ja, darf ich das denn?“ Elisabeth Helminger ist sehr wohl überzeugt davon und verweist etwa auf so genannte Klage- und Fluchpsalmen. Auf Wunsch liest sie diese den Patienten auch vor, die vorwiegend erstaunt darauf reagieren.
Als Elisabeth Helminger selbst acht Jahre alt war, wurde sie von einem alkoholisierten Autolenker niedergefahren. Nach dem Unfall, der sich vor 40 Jahren ereignet hatte, wachte sie mitten in der Nacht im Gitterbett eines Krankenhauses auf. Noch heute erinnere sie sich gut an diese Situation der Hilflosigkeit. Sie habe damals irrsinnige Schmerzen gehabt und überhaupt nicht einordnen können, wo sie sich befand. Niemand sei bei ihr gewesen. Erst am nächsten Morgen nach der Unfallnacht wäre jemand zu ihr ins Zimmer gekommen. „Ich habe mir seither immer gedacht, ich möchte einen Beruf ausüben, durch den sich die Menschen nicht so alleine fühlen“, erklärt die Seelsorgerin ihre Motivation zu ihrer speziellen Berufswahl.
Frau Helminger ist zu 50 Prozent arbeitsfähig. Sie leidet an einem multiplen Schmerzsyndrom. Sie bezwang zwei Krebserkrankungen. Ihre Wirbelsäule ist seither arg in Mitleidenschaft gezogen und vor allem ihre linke Körperhälfte kaum mehr schmerzfrei zu bekommen. Mit Medikamenten und Therapien gelinge es ihr dennoch immer wieder für eine gewisse Linderung zu sorgen. Dabei vertraut sie auf eine Ärztin aus dem Tageshospiz in Salzburg. Auch Menschen, die nicht an Krebs leiden und akute Schmerzen haben, können sich übrigens dort jederzeit Rat und Hilfe holen.
„Diese Krankheiten habe ich überwunden. Es handelt sich um eine Krebsart, über die bisher wenig bekannt war. Das ist der Grund, warum ich Kontrollen im dreimonatigen Rhythmus absolvieren muss. Bis der Sargdeckel zu ist“, fasst sie schließlich ihre aktuelle Situation zusammen.
„Waren Sie böse auf Gott, als Sie ihre Diagnose erhalten haben?“, lautet eine Frage an Frau Helminger im Interview. „Ja. Vor allem beim zweiten Mal habe ich ordentlich geschimpft. Ich denke, Gott hält es aus, wenn man nicht versteht, warum man von einer schweren Krankheit betroffen ist.“
Je mehr die Seelsorgerin während ihrer Ausbildung über Jesus, die Bibel und die Ansichten der Kirche lernte, desto mehr Fragen tauchten für sie auf. Speziell Fragen über das Leben, über das Leid und über das Leben nach dem Tod häuften sich. Wo Wissen im kognitiven Sinn in einer Sackgasse mündet, eröffnet sich ein neuer Raum für den Glauben. „Eine spirituelle Grundhaltung, die mich mit Menschen, die krank sind, die sterbend sind, verbindet. Ich bin eine Suchende, eine Auf-dem-Weg-Seiende. Ich habe vor allem keine Antwort darauf, warum Menschen oft schon in jungen Jahren erkranken, warum eine ganze Familie leidet. Ich habe auf das Leid generell keine Antwort, die in Worte zu fassen wäre.“
Und dennoch sehe sie ein großes Aber. Man könne für Sterbende da sein und ebenso für ihre Angehörigen. „Ich versuche hinzuhören, zwischen den Zeilen zu hören und mit ihnen das Schweigen auszuhalten, weil vieles unaussprechlich ist.“ Frau Helminger erzählt von einer Ordensschwester, die nach dem schrecklichen Tsunami auf Sri Lanka tätig war und einen kleinen Jungen beobachtete, der mit der Hand aufs Meer schlug und laut schrie: „Warum hast Du mir meine Mama genommen?“.
„Den Menschen, die ich begleite, geht es oft so. Sie schlagen verbal oder nonverbal auf ihr Schicksal ein. Sie schreien auf Gott, manchmal auf uns Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ein: ‚Warum hast Du mir meine Gesundheit genommen? Warum nimmst Du mir mein Leben?’ Meine Aufgabe sehe ich darin, dieses Schreien, wenn sie es in meiner Gegenwart äußern wollen, mit auszuhalten, sie auch zum Schreien zu ermutigen. Sie zu ermutigen, ihre Aggression, auch gegen Gott, zu benennen“, so die Seelsorgerin.
Die Frage „Was denken Sie, passiert, nachdem wir verstorben sind?“, beantwortet Frau Elisabeth Helminger folgendermaßen: „Ich glaube an die konservative Variante, daran, dass wir dann bei Gott sind, dass es uns gut gehen wird. Dass wir die Menschen treffen, die wir sehr gerne haben.“ Sie macht eine kurze Pause und setzt dann fort: „Und ich werde tanzen können.“ Fragte man Menschen nämlich danach, was sie nach dem Tod erwarte, werde von vielen Gläubigen die Erfüllung ihrer größten Sehnsüchte genannt. „Ich kann nicht mehr tanzen, würde es aber wahnsinnig gerne tun.“
Alle Interviews, die zum Entstehen dieses Buches beigetragen haben, wurden per Audioaufnahme festgehalten. Im Nachhinein hören sich einzelne Fragen durchaus etwas banal, pietätlos oder unpassend an. Etwa jene im Gespräch mit Frau Elisabeth Helminger. „Gibt es Patienten, die es auf Dauer gut wegstecken, dass sie sterben?“ „Was heißt gut wegstecken?“, hakte die Seelsorgerin sofort nach und gab sich mit der Antwort „Ohne Hadern, ohne Wut“, keineswegs zufrieden. „Ich finde, dass Hadern nicht zwingend negativ ist. Wenn ich 50 Jahre alt bin, Krebs habe und mein Kind noch nicht einmal die Schule abgeschlossen hat, dann sage ich nun einmal: Scheiße. Schlimm sind vor allem Dinge, die gegen die Natur sind. Wenn Kinder vor den Eltern sterben. Auch wenn die Eltern 95 Jahre alt sind und die Kinder 70, ist es gegen die Natur. Wenn Mütter oder Väter von Kleinkindern sterben, dann ist das total tragisch“, stellt Frau Helminger schließlich ihren Standpunkt klar.
Menschen, die nicht die Möglichkeit haben, zu Hause zu sterben, reagierten manchmal überaus abweisend. Sie möchten ganz einfach in Ruhe gelassen werden. Manche Patienten würden ihr Schicksal auf jene Weise verarbeiten, dass sie kaum noch Personen an sich heranlassen. Die ehrenamtliche Hospizbegleiterin Gudrun P. erinnert sich während unseres Interviews an einen alten Mann. Dreimal hatte man schon mit Sicherheit angenommen, der Patient würde nun sterben. Als dann aber die Enkelin und Freunde gekommen waren, erholte er sich wieder. Jahre waren vergangen, seit es das erste Mal so ausgesehen hatte, als würde der Mann seine Augen für immer schließen. Er konnte zuletzt nicht einmal mehr sprechen. „Wir kommunizierten über die Augen, andere Menschen ließ er kaum an sich heran. Er wünschte auch keine Berührungen“.
Über ihren gesundheitlichen Zustand, darüber wie sie sich fühlen, würden die Patienten schon manches Mal sprechen. Vieles drehe sich auch darum, was früher in ihrem Leben vorgefallen sei, was sie in jungen Jahren alles erlebt hätten. Hingegen gäbe es auch Patienten, die in der letzten Phase ihres Lebens überhaupt nicht mehr viel reden. Vor allem Männer meinten manchmal, alle „Psychos“ könnten ihnen sowieso den Buckel hinunter rutschen, die hätten ihnen jetzt gerade noch gefehlt. „Erst heute hat ein Patient zur Praktikantin gesagt, bitte halten Sie mir alle Frauen vom Leib, die mit mir reden wollen“, berichtet eine Hospizmitarbeiterin, die anonym bleiben möchte. Manche wollen eben über nichts und mit niemandem mehr reden. Punkt.
Das mag unfreundlich und mürrisch sein, aber man müsse natürlich auch für diese Wünsche Verständnis aufbringen, meint sie und erwähnt, dass ihrer Erfahrung nach eher die Männer zu den Gesprächsverweigerern zählten. „Es ist einfach so, dass wir Frauen gerne über unser Befinden sprechen und die Männer nicht. Es handelt sich oft um die Generation, die es gar nicht anders gelernt hat. Ich habe das Gefühl, manche sind höflich und trauen sich nicht zu sagen, >bitte gehen Sie wieder<. Die Lebensstrategien, die man bis dahin gehabt hat, die hat man dann auch. Es gibt Patienten, die bisher ganz wenige soziale Kontakte hatten und dann bei uns im Hospiz sagen, >bitte kommen Sie nicht jede Stunde rein. Ich fühle mich total wohl und geborgen hier, aber das ist mir zu nahe<. Wenn sie es bisher gewohnt waren, 24 Stunden am Tag alleine zu sein, dann sind ihnen regelmäßige Besuche einfach zu viel“.
Aus dem Buch “Die Zeit der letzten Wünsche”