Den normalen Alltag leben
Ein Geschenk für die meisten sei es, eine ganz normale Woche zu verbringen. „Klischees kann ich kaum bedienen. Viele finden es einfach genial, wenn wieder Alltag einkehren kann“, erklärt Frau Schnöll. Das bedeutet, einen Spaziergang mit der Freundin zu machen oder den Partner ohne Bedenken zum Stammtisch zu schicken, weil man sich alleine zu Hause wieder ausreichend wohl fühlt. Es bringe Kraft und Zufriedenheit trotz widriger Umstände normal leben zu können. Dazu gehöre auch, die Wäsche aufzuhängen, ohne Schmerzen zu verspüren, mit Freude kochen zu können oder einfach nur ohne fremde Hilfe mit dem Auto zu fahren. Frau Schnöll berichtet im Zuge dessen von einer Besucherin, die endlich wieder einmal zu ihrer ehemaligen Arbeitsstätte nach Wien aufbrechen konnte, um an einem Symposium teilzunehmen. Das mag stressbeladenen Lesern abwegig erscheinen, entspricht in seiner Alltagshaftigkeit aber dennoch einem besonders wichtigen Wunsch vieler Patienten.
Neben den Schmerzen macht den Besuchern vor allem die leider sehr verbreitete und häufig intensive Abgeschlagenheit zu schaffen. „Diese ist nicht mit der Müdigkeit gesunder Menschen vergleichbar, wenn sie zu wenig Schlaf hatten. Eher mit der körperlichen Schwere, die man nach einer intensiven Drei-Tages-Etappe beim Wandern verspürt. Wenn man denkt, heute gehe ich keinen Schritt weit mehr.“ Hinzu kommen teilweise Übelkeit und Schwindel. Besucher berichteten von seltsamen Empfindungen in Händen und Füßen. Die Mischung aus Kribbeln, Schmerz und taubem Gefühl als Folge der Chemotherapie. Manche zeigten sogar mehrere Symptome gleichzeitig. „Die Linderung all dieser Beschwerden ist unser Auftrag. Gelingt dies, kann sich das Leben wieder Raum nehmen“, so Frau Schnöll.
Manchmal könnten dann sogar große Wünsche erfüllt werden. Aufmunternde Geschichten träten zu Tage. Ein ehemaliger, knapp über 70-jähriger Besucher sei mit seiner Frau zum letzten Mal nach Kroatien gefahren. Neben allen anderen Reiseutensilien wurde eben dieses Mal zusätzlich eine Schmerzpumpe im Gepäck verstaut. Ein Konzept der Therapie, das es dem Patienten beim Eintreten von großen Beschwerden erlaubt, sich selbständig ein Schmerzmittel zu verabreichen. Die Schmerzpumpe soll Unabhängigkeit ermöglichen und eine optimale Anpassung der Dosis an die jeweiligen Bedürfnisse gewährleisten.
„Einer unserer Patienten ist sechs Tage lang nach Kroatien gefahren, was vor allem durch die Hilfe seiner Lebensgefährtin möglich wurde. Sie war Krankenschwester, begleitete ihn auf der Reise und konnte ihm das Morphium spritzen“, so Elisabeth Helminger, die Seelsorgerin des Helga-Treichl-Hospizes (nunmehr Raphael Hospiz Salzburg). Derselbe Patient wollte unbedingt noch ein paar Tage alleine in seiner Wohnung verbringen, ein ehrenamtlicher Mitarbeiter hatte ihn hingefahren. Er brauchte aufgrund seines schlechten gesundheitlichen Zustandes zwar relativ lange, um die Treppen zu bewältigen, schaffte es aber schließlich doch.
Die Erfüllung der verbreiteten Sehnsucht nach lang gezogenen Stränden und der Weite des Meeres wirke für viele wie wohlschmeckende Medizin. Alte Erinnerungen, sonnige Urlaubstage und laue Sommernächte täten der Seele einfach gut. Umgekehrt ist aber auch der Abschied vom Urlaubsparadies nicht immer einfach, besonders in der Gewissheit, es werde der letzte Besuch gewesen sein.
Noch eine schöne Reise erleben zu können, entspricht für zahlreiche Schwerkranke einem der sehnlichsten Wünsche. Tatsächlich kommt es dazu allerdings eher selten.
Im Dokumentarfilm „Zeit zu gehen“ von Anita Natmeßnig verfolgte die 86-jährige Josefine S., schon seit geraumer Zeit an ihr Bett gefesselt, von der Terrasse des Hospizes aus die Bahnen der Flugzeuge. „Ein bisschen was sieht man ja doch, wenn man heraußen ist“, sagte sie. Das Sterben mache ihr nichts aus. Hauptsache es würde ruhig vonstatten gehen. Ihr Blick richtete sich wieder auf eine vorüber fliegende Maschine. „Ich denke mir, einmal noch drinnen sitzen, aber das geht nicht.“ Frau S. konnte die Premiere des Filmes leider nicht mehr miterleben.
Das Sterben wird in dieser Dokumentation mit großem Respekt gezeigt. Und natürlich mit Einwilligung aller Protagonisten. In einem Interview, das die Philosophin und Wissenschaftsjournalistin Ursula Baatz mit der Filmemacherin Anita Natmeßnig führte, berichtet zweitere: „Als ich Josefine S. gefragt beziehungsweise gebeten habe, ob ich sie als Verstorbene filmen darf, war ihre Reaktion: >Da sehe und höre ich ja sowieso nichts mehr.< Allerdings in einem alten Wiener Dialekt. Ja, das war eine sehr trockene Weisheit einer 86-jährigen Dame,“ so Natmeßnig. Ihr sei jedenfalls der Vorgang, in dem man allenfalls auch einen Tabubruch sehen könnte, nämlich eine Verstorbene zu zeigen, während sie von zwei Hospizschwestern würdevoll für den Abschied von den Verwandten hergerichtet wird, unglaublich wichtig gewesen.
Hin und wieder komme es sogar zu unvorhersehbaren Verbesserungen des Gesundheitszustandes bei Hospizbesuchern. „Das ist herrlich.“ Frau Schnöll berichtet begeistert von einer Dame, die an Brustkrebs samt Knochenmetastasen litt und bei der durch die Absiedlung der Krebszellen bösartige Knochentumore entstanden waren. Derlei Komplikationen haben einen erheblichen Einfluss auf die Lebensqualität der Patienten. „Wir befürchteten schon, die Besucherin ist dem Tode nahe. Es wurde angenommen, sie hätte zusätzlich noch unter Lungenmetastasen zu leiden.“ Die Ergebnisse der diesbezüglichen Untersuchung zeigten jedoch glücklicherweise keine Verschlechterung. Seither fühlte sie sich besser. Sie suchte sogar ihre Volkstanzgruppe auf, die zufällig gerade eine Feier veranstaltet hatte und konnte dort mit ihrem Mann das Tanzbein schwingen. Nicht einmal schwer ins Atmen sei sie gekommen. „Das sind Chancen, die Besucher nutzen, um ihr Leben in die Hand zu nehmen. Sie genießen diesen Abend und sprechen nicht darüber, was sie im kommenden Herbst machen wollen. Jetzt und heute bin ich bei der Feier mit dabei. So ist ihre Einstellung“, erklärt Frau Schnöll die Fokussierung Betroffener auf das Hier und Jetzt.
Waltraud S. begleitet seit neun Jahren Menschen auf ihrem letzten Weg. Ebenso wie Gudrun P. ist sie ehrenamtlich für die Hospizbewegung tätig. Beide erklärten sich zu einem gemeinsamen Interview bereit. „Durch die Begegnungen mit den Patienten werde ich förmlich zum Wesentlichen hingeschubst. Dabei wird mir bewusst, was wirklich wichtig ist im Leben. In der Hospizarbeit sind wir nicht nur Gebende, wir bekommen auch sehr viel zurück. Die Menschen vertrauen uns viel an, sie erzählen aus ihrem Leben, über ihre Bedürfnisse und Ängste“, so Waltraud S. Sie berichtet von einem Patienten, der endlich wieder einmal griechische Speisen essen wollte. Im Tageshospiz erfüllte man ihm den Wunsch und bereitete für ihn köstliche mediterrane Spezialitäten. Einem anderen genügte es schon, zum Mittagessen wieder einmal einen Radler trinken zu können. „Es sind eben oft Kleinigkeiten, die zu etwas Großem werden.“
Gerne nehmen sich ehrenamtliche Hospizmitarbeiter die Zeit, um Patienten kleine Freuden zu bereiten, etwa mit ihnen ins Kaffeehaus zu gehen oder ein Eis zu essen. Wünsche, die für Gesunde etwas ganz Normales sind, werden für schwer erkrankte Menschen plötzlich zum Erlebnis. Die Therapeutin Klaudia Fleck erinnert sich etwa an einen Patienten mit einem besorgniserregend schlechten Gesundheitszustand. Der alte Herr war bereits merklich abgemagert und wurde über eine Sonde ernährt. „Er sagte, er würde so gerne eine sahnige Torte essen, aber er könne sie nicht mehr schlucken. Ich antwortete ihm, sein Geschmacksinn wäre ja ohnehin im Mund.“ Klaudia Fleck begleitete ihn ins hauseigene Café. Er sollte das Stück einfach in den Mund nehmen und nach einiger Zeit wieder ausspucken. So konnte er jenen Geschmack, der ihm so viel bedeutete, noch einmal erleben – zwei Tage vor seinem Tod.
Das Hungergefühl nimmt mit zunehmendem Alter auf ganz natürliche Weise generell ab. Gleichzeitig hält das Sättigungsgefühl nach Mahlzeiten länger an. Die Entleerung des Magens ist verzögert. Schluckstörungen, Mundtrockenheit und wenig Appetit behindern häufig zudem eine ausgewogene Ernährung im Alter, ebenso wie die relativ verbreitete Altersdepression. Die Hoffnung, eine Gewichtszunahme durch medikamentöse Unterstützung zu erreichen, wird meistens enttäuscht.
Speziell in solchen Fällen kommt den Hospizmitarbeitern eine wichtige Rolle zu. Gemeinschaftlich wird etwa im Tageshospiz gekocht und gegessen. „Unsere ehrenamtlichen Köchinnen überlegen sich köstliche Gerichte und nehmen Rücksicht auf Wünsche, die kürzlich geäußert wurden“, erzählt Barbara Schnöll. Meist gibt es Hausmannskost. Viel wichtiger als der Speiseplan sei aber ohnedies das Miteinander beim Essen. Wenn Patienten sagen, sie bringen nicht viel runter, serviert man eben klitzekleine Mahlzeiten. „Dann gibt es Puppenküchenportionen, wie ich immer sage. Das darf auch sein und ist gut so. Wir fragen nicht fünfmal nach, ob nicht vielleicht doch noch etwas Platz im Bauch hätte“, so die Leiterin der Pflege im Tageshospiz.
Werner Gruber, der seit elf Jahren als Sozialarbeiter im Helga-Treichl-Hospiz (nunmehr Raphael Hospiz Salzburg) beschäftigt ist, berichtet von einer jungen Patientin. Die 24-Jährige hatte Hautkrebs im Endstadium. Als der Sozialarbeiter eines Tages ihr Zimmer betrat, war ihre ganze Familie anwesend. Es war Vormittag. Alle tranken Wein, und zwar schlicht und ergreifend deshalb, weil der Patientin danach war. Einfach so. Auch Werner Gruber wurde ein Glas angeboten. „Normalerweise trinke ich um diese Uhrzeit nie, aber es war einfach so eine ausgelassene Stimmung. Gerne habe ich mit allen angestoßen. Auch mit der Patientin. Sie konnte nicht mehr schlucken, weshalb ihre Lippen mit Rotwein benetzt wurden.“ Er fragte sie danach, was es denn zu feiern gäbe. Lächelnd meinte sie: „Den heutigen Tag.“ Am nächsten ist sie gestorben. Werner Gruber rätselt heute noch darüber, ob sich ihre Familienmitglieder sicher waren, dass diese kleine Feier wohl ihre letzte wäre, ob sie darüber nachgedacht haben, dass es vielleicht keine weitere Möglichkeit mehr geben würde, sich mit ihr zu unterhalten. „Der Moment war wichtig. Dass die Familie da war, dass man beisammen war, das galt es zu feiern. Und es beeindruckte mich sehr, weil es oft gar nicht mehr die großen Ideen oder die großen Zielsetzungen braucht“, so Gruber.
Gemeinsam mit Klaudia Fleck bildet er im Helga-Treichl-Hospiz (nunmehr Raphael Hospiz Salzburg) das „Brückenteam“. Es gilt Verbindungen herzustellen zwischen den Patienten und den Angehörigen oder zwischen Patienten und der Außenwelt. Ihre Aufgabe besteht unter anderem auch darin, zusätzlich zur medizinischen und pflegerischen Versorgung noch andere Dinge beizutragen, die den Patienten gut tun. „Ich habe die Leute auch ermutigt Wünsche zu nennen“, so Werner Gruber.
Er erzählt von einem Patienten, der an einem Hirntumor litt und Zeit seines Lebens ein großer Fußballfan war. Das Dauer-Abonnement im Stadion gehörte für ihn einfach zu den Selbstverständlichkeiten des Lebens. Er war einer jener leidenschaftlichen Anhänger gewesen, die sich nach dem Schlusspfiff eines Spieles schon auf den Anpfiff der nächsten Partie freuten. „Der Patient wollte irrsinnig gerne noch einmal ein Spiel im Stadion besuchen. Mit Hilfe des Roten Kreuzes und durch Verbindungen zum Österreichischen Rundfunk haben wir es geschafft, einen tollen Transport für ihn zu organisieren.“ Werner Gruber und die Lebensgefährtin des Patienten begleiteten ihn. Die Gegner kamen aus Innsbruck. Ein schöner Zufall, dass es ausgerechnet an diesem Tag zu einem der immer besonders spannenden und stimmungsgeladenen West-Derbys gekommen war. Die Salzburger konnten drei Punkte erkämpfen und schickten die Tiroler mit 2:0 nach Hause. „Der Patient war total happy an diesem Tag. Dieser Augenblick, als er mit seinem Fanschal, den er zuvor geschenkt bekommen hatte, im Rollstuhl saß und Salzburg anfeuerte, der bleibt. Dieser Augenblick hat sich auch bei mir eingebrannt.“
Wünsche gibt es viele, meint Werner Gruber. Es seien meist die scheinbar banalen Dinge, nach welchen man sich am Ende sehnt. „Ich habe solche Lust auf einen Hamburger“, hatte einmal ein Patient zu ihm gesagt, „kannst Du ihn mir besorgen?“ Oder Sushi wäre genau in diesem Augenblick perfekt, um dem Tag eine spezielle Note zu verleihen. Ein anderer Patient habe unbedingt noch einmal auf eine ganz bestimmte Berghütte fahren wollen. Hunderte Male in seinem Leben hätten ihn seine Beine ohne weiteres nach oben getragen. Zum letzten Mal sei es eben auf vier Rädern und mit Unterstützung erfolgt. Der Schönheit der Hütte, dem besonderen Gefühl dort angekommen zu sein, habe das aber letztenendes keinen Abbruch getan.
Eine wiederum andere Patientin wollte unbedingt die Hochzeit ihrer Tochter miterleben. Auch hier organisierten die Hospizmitarbeiter die Reise, da sich die beiden Brautleute das Ja-Wort an einem etwas weiter entfernten Ort geben wollten. Ihre Medikamente wurden einfach eingepackt und der Patientin mitgegeben. Schließlich wollte sie genauso, wie zahlreiche andere Gäste, in einem nahegelegenen Hotel übernachten. Durch gemeinsame Anstrengungen habe man ihr also auch diesen „kleinen“ und doch so großen Wunsch erfüllen können.
Aus dem Buch “Die Zeit der letzten Wünsche”