Das Ideal vom guten Abschied

Interview mit Herrn Martin Böker, dem Leiter des Helga-Treichl-Hospizes (nunmehr Raphael Hospiz Salzburg)

Martin Böker ist Leiter des Helga-Treichl-Hospizes in Salzburg (nunmehr Raphael Hospiz Salzburg). Er kann auf 25 Jahre Erfahrung im Bereich Pflege zurückblicken und leitet die Einrichtung seit ihrem Entstehen im Jahr 2002. Das Interview beginnt verspätet. Am Ende eines langen Ganges wird ein weißer Sarg aus Holz auf einem Fahrgestell vorbeigeschoben. Von der Wiege bis zur Bahre – eine Redensart als Synonym für die Zeitspanne eines ganzen Lebens. Für einen Bewohner des Hauses hat sich dieser Kreis offenbar vor kurzem geschlossen.

Das Gespräch mit Martin Böker dreht sich um das Ideal des „guten Sterbens“.

Was hat man sich Ihrer Meinung nach unter „gutem Sterben“ vorzustellen?

Dass man sich mit seinem Leben ausgesöhnt hat, man alles in Ordnung gebracht, seine Ziele erreicht und keine Konflikte mehr hat. Mit einer Dankbarkeit aufs Leben zurückblicken zu können. Dass man die Krankheit annimmt und diese Welt mit einem seligen Lächeln verlässt.

Werden Konfliktlösungen dadurch begünstigt, dass Patienten erkennen, eine nur noch sehr begrenzte Lebenszeit dafür verfügbar zu haben?

Natürlich passiert das, es kommt sogar relativ häufig vor. Dabei entsteht allerdings auch ein Dilemma. Solche Konfliktlösungen gehören zur Phantasie vom guten Tod dazu und aus dieser Vorstellung resultiert aus meiner Sicht auch ganz viel Unfug. Jeder von uns hat das Recht mit seinen Konflikten zu leben, aber auch mit seinen Konflikten zu sterben. Niemand von uns hat die Pflicht, alles ins Reine zu bringen, wenn er diese Welt verlässt.

Aber für gewöhnlich bleibt es doch ein natürliches Bedürfnis der Menschen?

Ich denke, es ist häufig vor allem ein Bedürfnis der Begleitenden und sie meinen es ja auch gut. Aber es gibt einfach Situationen, die konfliktreich und schwierig sind und das bleiben sie bis zum Ende. Die Menschen haben das Recht, auch in dieser Situation zu verharren. Wir müssen sie nicht in eine Lage bringen, in der alles paletti ist. Wie gesagt, oft kommt es zur Bereinigung von Konflikten. Es ist schließlich ein Teil des physiologischen Geschehens, dass wir weniger Energie besitzen, bevor wir diese Welt verlassen. Man hat weniger Interesse für Konfliktstoff, weil er die Patienten schlicht nicht mehr interessiert.

Und dann bleiben ganz klar jene Essenzen übrig, die eigentlich wichtig sind. Das ist einfach sehr viel Liebe und Zuneigung. Und auch die Trauer, jemanden zu verlassen, für den man immer Schutz und Fürsorge geboten hat. Es bleibt die Sorge, diesen Menschen alleine zu lassen. Es gibt Konfliktsituationen, wo der Patient durch ihm nahe stehende Personen darauf aufmerksam gemacht wird, dass beispielsweise sein Kind oder seine Ehefrau sehr wohl lebenstüchtig ist und das Leben auch allein noch gut genug meistern wird. Dann kann man sich verabschieden und sagen, es ist in Ordnung, wie es ist.

Gibt es Beispiele für eine gelungene Aussöhnung?

Das ist eine ganz private Angelegenheit, und selbst wenn es vor meinen Augen passiert ist, finde ich nicht, das Recht zu haben, davon zu erzählen. Gerade durch die Betonung dieser schönen Geschichten entsteht eine Last. Nämlich, dass die Hospizarbeit als etwas besonders Schwieriges angesehen wird. Für mich persönlich war es beispielsweise sehr wichtig, dass mein Vater, mit dem ich in meinem Leben viele Konflikte hatte, seine letzten Monate bei mir verbracht hat. Ich erhielt in einer ganz biblischen Form seinen Segen, bevor er sich verabschiedete.

Was für mich wichtig war, wird es auch für viele unserer Hospizpatienten sein. Bei einigen kriegen wir das auch mit, aber es handelt sich um ein Feld, in dem wir als Hospizbegleiter nichts verloren haben. Oft geht es um die persönlichen Erfahrungen unserer Patienten und ihrer Angehörigen, wobei unsere Aufgabe darin besteht, die Familien nicht zu stören. Zur Hospizideologie, wie ich sie verstehe, gehört, dass jeder Mensch das Recht hat, sich dort von dieser Welt zu verabschieden, wo er das will. Die meisten wollen es zu Hause bei den Familien.

Zu uns kommen jene Menschen, bei welchen die Pflege zu Hause aus den unterschiedlichsten Gründen nicht mehr funktioniert. Manchmal sind es auch Personen, die bis dahin ein schwieriges Leben hatten oder die am Leben gescheitert sind. Natürlich landen auch Menschen bei uns, die ihren Körper durch eine ungesunde Lebensweise, etwa in Folge Nikotin- oder Alkoholmissbrauch gewissermaßen durch eigene Sorglosigkeit zu Grunde gerichtet haben. Aber nicht, weil sie Spaß daran hatten, sich selber zu ruinieren, sondern weil sie einfach mit dem Leben nicht klargekommen sind. Oder nur auf diese Weise überhaupt einigermaßen klarkommen konnten.

Im Hospiz arbeiten hauptsächlich Frauen. Woran liegt das? Ist Empathie weiblich?

Wenn Sie mich dasselbe vor drei Jahren gefragt hätten, hätte ich wahrscheinlich mit einem Ja geantwortet. Inzwischen habe ich meine Doktorarbeit über die Motivation und den Lebensstil von Hospizmitarbeiterinnen und Mitarbeitern fertig gestellt. Dabei beschäftigte ich mich sehr stark mit dem Thema Empathie. Natürlich nimmt man an, eine Frau ist von ihrem Naturell her grundsätzlich fähiger, sich in jemanden einzufühlen als ein Mann. Als Wissenschafter würde ich das aber nicht mehr vorbehaltlos unterschreiben. Vielmehr dürfte es sich um ein wenig begründetes Vorurteil handeln. Wobei Empathie ja nur einen von vielen wichtigen Teilen der Hospizarbeit umschreibt. Es gibt genauso die Qualität der Fürsorglichkeit, die durchaus eine sehr mütterliche und weibliche ist.

Welche Kriterien sollte man erfüllen, um in einem Hospiz arbeiten zu können?

Grundsätzlich handelt es sich dabei um ein ganz normales Arbeitsfeld im Gesundheitsbereich. Eine Situation, die existenziell ganz schwer zu ertragen ist, kann man auch auf einer Geburtenstation erleben. Gerade für eine Frau ist es schwer zu verstehen, wenn beispielsweise das Leben eines Babys verloren geht. Das sind immer extrem schwierige Situationen, wobei einem die Themen Abschied und Sterben überall begegnen können. Auf einer Intensivstation muss man sehr viel stressresistenter sein als bei uns im Hospiz.

Es gibt aber schon Qualitäten, die hilfreich sind, wenn man im Hospiz arbeitet. Wichtig ist die Liebe zum Menschen. Ein Wort, das schwer wissenschaftlich festzumachen ist, aber es ist eine ganz wesentliche Essenz. Man muss die Menschen mögen, auch in ihren Konflikten und in ihren Widersprüchlichkeiten. Eines unserer Probleme in der Hospizarbeit besteht in den immens hohen moralischen Ansprüchen. Beispielsweise die Phantasie von einem guten Tod.

Es ist gut nachvollziehbar und richtig, dass man Menschen, die ins Hospiz kommen, ein besseres Umfeld wünscht, um sich vom Leben zu verabschieden. Aber dieser Gedanke beinhaltet eben auch die Annahme, dass man es zu Hause, im Spital oder im Pflegeheim nicht so gut hat. Dort herrschen in Wahrheit allerdings nur andere Bedingungen. Und deswegen ist es mir ein Anliegen, das Hospiz als ganz normalen Bereich des Gesundheitswesens zu verstehen. Der Wunsch der Menschen besteht darin, vor allem zu Hause gut sterben zu können, genauso aber bei Bedarf auch im Krankenhaus oder im Pflegeheim gut sterben zu können.

Gibt es ältere Patienten, die gerne zu Hause sterben würden, dies aber im Wissen um die oft unzumutbaren Belastungen für ihre Angehörigen nicht auszusprechen wagen?

Ja, das ist eine ganz wesentliche Sorge dieser Menschen. Das kennt jeder von uns. Vor allem leben wir in einer Gesellschaft, in der die individuelle Tüchtigkeit, die Genussfähigkeit und die Konsumfähigkeit als wichtige Größen gelten. Wenn man der eigenen Hilflosigkeit und Bedürftigkeit ausgesetzt ist, wird es schwierig, damit umzugehen. Dann entwickelt sich die Sorge, den Angehörigen eine Last zu sein. Dabei handelt es sich um ein Hauptmotiv, warum Menschen darum bitten, ihnen das Leben zu nehmen. Für viele wird so die Hospizstation zu einer wichtigen Erfahrung, damit dieses Problem weniger gravierend wird. Eine Krebserkrankung, die beispielsweise eine schwer zu versorgende Wunde hervorbringt, wird bei uns im Hospiz gut verarztet. Die Patienten merken, dass eine weitgehende Schmerzfreiheit möglich ist und die Angehörigen in diesem Umfeld willkommen sind und rund um die Uhr da sein können, wenn sie das möchten. Für manche ist es aber auch ein guter Schritt, dann einmal wieder weg gehen zu können und eben nicht immer anwesend sein zu müssen.

Aus dem Buch “Die Zeit der letzten Wünsche”