Pflegenden Angehörigen droht Wohnungsverlust!

Die Pflege von Angehörigen lastet nach wie vor mehrheitlich auf den Schultern von Frauen, nicht selten sogar auf jenen von Kindern und Jugendlichen. Erben hingegen ist statistisch gesehen männlich (siehe dazu den Blog „Erben ist männlich“ vom 06.02.2015).

Wenn es nun aber tendenziell die sozial und wirtschaftlich Schwächsten sind, die sich innerhalb einer Familie um Pflegefälle kümmern, liegt der Schluss nahe, dass sie auch am stärksten betroffen werden von den physischen, psychischen, finanziellen und organisatorischen Belastungen, die damit einhergehen.

Nicht genug damit, müssen sie sich auch noch mit bürokratischen Hürden und einer von Zeit zu Zeit wenig wertschätzenden Justiz auseinandersetzen (siehe dazu den Blog „Abgeltung von Pflegeleistungen innerhalb der Familie“ vom 08.05.2015), die im Ergebnis alle Beteiligten ratlos und ohnmächtig zurücklässt.

In diese Kategorie reiht sich beispielsweise eine erst kürzlich ergangene Entscheidung des Obersten Gerichtshofs vom 28.04.2015, 10 Ob 36/15i, Zak 2015/434, 236, ein. Das Mietverhältnis eines 1950 geborenen Mieters wurde durch den Vermieter aufgekündigt, weil er seit etwa zwei Jahren nahezu ständig bei seiner inzwischen 93-jährigen, pflegebedürftigen Mutter in deren Mietwohnung im 13. Wiener Gemeindebezirk wohnte. Die Hauptlast der Pflege ruhte auf dem Sohn, dessen Schwester nur ab und zu aushalf. Er unterlag in beiden Vorinstanzen und auch seine außerordentliche Revision wurde zurückgewiesen. Der Oberste Gerichtshof vermochte keine erhebliche Rechtsfrage in der Argumentation zu erblicken, dass er ein schutzwürdiges Interesse am Fortbestand des Mietverhältnisses habe, erkennbar auf die aufgekündigte Wohnung angewiesen sei und sich nur deshalb wenig in der eigenen Wohnung aufhalte, weil er sich intensiv um seine pflegebedüftige Mutter kümmern müsse, also sein Interesse an der Aufrechterhaltung des Bestandverhältnisses jenes des Vermieters an dessen Auflösung übersteige.

Wenige Jahre zuvor wurde hingegen – ebenfalls in allen drei Instanzen – noch Gegenteiliges judiziert, obgleich der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs vom 20.03.2007, 4Ob34/07i, Zak 2007/383, 216, ein ähnlicher Sachverhalt zugrunde lag.

Seit mehreren Jahren pflegte ein Neffe seine 86-jährige Tante. Zu diesem Zweck hielt er sich regelmäßig in ihrer Wohnung auf und übernachtete zumeist auch dort. Er hatte persönlich keine Rechte an ihrer Wohnung und beabsichtigte, bei Wegfall des Pflegebedarfs in seine eigene Mietwohnung zurückzukehren. Auch dieses Mietverhältnis wurde seinerzeit durch den Vermieter wegen dauerhafter Nichtbenutzung aufgekündigt. Der Oberste Gerichtshof bestätigte damals jedoch im Gleichklang mit den Vorinstanzen die Schutzwürdigkeit der Interessen des Neffen an der Aufrechterhaltung des Mietvertrags, weshalb die Aufkündigung nicht zulässig sei. Die Pflege einer Familienangehörigen, verbunden mit der Notwendigkeit eines ständigen Aufenthalts in ihrer Wohnung, führe dezidiert nicht zum Wegfall des dringenden Wohnbedürfnisses an der eigenen Wohnung.

Die unterschiedlichen Ergebnisse dieser Entscheidungen zeigen recht eindrucksvoll, wie breit hier der gerichtliche Entscheidungsspielraum in jedem Einzelfall gefächert ist, vor allem aber auch, dass der strategischen Ausrichtung des pflegenden Mieters in seiner Prozessführung elementare Bedeutung zukommt.

Der Oberste Gerichtshof hat nämlich jeweils mit Nachdruck hervorgehoben, dass ein Mieter konkret behaupten und beweisen muss, seine eigene Wohnung mit Sicherheit in naher Zukunft wieder zu benötigen. Außerdem trifft ihn die Behauptungs- und Beweislast dafür, dass er ein schutzwürdiges Interesse am Fortbestand des Mietverhältnisses hat, etwa weil trotz vorübergehender Abwesenheit in absehbarer Zeit mit seiner Rückkehr in die Wohnung zu rechnen sei.

Bemerkenswert ist aber nicht nur der diametral voneinander abweichende Ausgang der beiden durchaus vergleichbaren Fälle, sondern auch, dass sie entgegen aller statistischen Erwartungen jeweils einen männlichen pflegenden Angehörigen betrafen. Ob sich dadurch aber die eingangs dargestellten Erwägungen zur traditionellen Rollenverteilung relativieren lassen, darf bezweifelt werden.

Näheres zu diesem Thema finden Sie auch in den Beiträgen vom 31.01.2014, 08.05.2015, 18.09.2015, 22.07.2016, 30.09.2016, 24.02.2017, 10.11.2017, 17.11.2017, 24.11.2017, 20.04.2018, 13.07.2018, 27.07.2018, 14.09.2018, 14.12.2018, 08.03.2019, 29.03.2019, 17.04.2020, 08.05.2020 und 29.05.2020.