Lebenserhaltung hat im Zweifel Vorrang!

Das österreichische Patientenverfügungsgesetz (PatVG) ermöglicht es, bestimmte medizinische Maßnahmen über die Errichtung einer Patientenverfügung prophylaktisch abzulehnen. Sie stellt eine klassische Vorsorgemaßnahme für jene Situationen dar, in denen man nicht (mehr) einsichts-, urteils- oder äußerungsfähig ist, also über die Art und den Umfang ärztlicher Behandlungen nicht selbst entscheiden kann.

Man unterscheidet die an eine Reihe von Gültigkeitsvoraussetzungen geknüpfte „verbindliche“ (=Befehl) von der „beachtlichen“ (=Wunsch) Patientenverfügung. Beispielsweise verlieren auch formgültig errichtete Patientenverfügungen nach Ablauf von spätestens fünf Jahren ihre Verbindlichkeit, es sei denn, die Erneuerung unterblieb nur deshalb, weil der Patient mangels Einsichts-, Urteils- oder Äußerungsfähigkeit dazu nicht imstande war.

Eine Patientenverfügung, die aus formellen oder zeitlichen Gründen nicht (mehr) alle Voraussetzungen für eine Verbindlichkeit erfüllt, ist dennoch für die Ermittlung des Willens des Patienten beachtlich und umso mehr von Bedeutung, je eher sie die Voraussetzungen einer verbindlichen Verfügung erfüllt. Dabei wird insbesondere berücksichtigt, inwieweit der Patient die Krankheitssituation, auf die sich die Patientenverfügung bezieht und deren Folgen im Errichtungszeitpunkt einschätzen konnte, wie konkret die medizinischen Behandlungen, die Gegenstand der Ablehnung sind, beschrieben werden, wie umfassend eine der Errichtung vorangegangene ärztliche Aufklärung war, inwieweit die Verfügung von den Formvorschriften für eine verbindliche Patientenverfügung abweicht, wie häufig sie erneuert wurde und wie lange die letzte Erneuerung zurückliegt.

Das PatVG ist mit 01.06.2006 in Kraft getreten, sodass bereits eine Vielzahl an Verfügungen durch Ablauf der fünfjährigen Verbindlichkeitsfrist ohne Erneuerung ex lege in beachtliche umgewandelt wurden. Die Gründe dafür sind vielschichtig. Häufig wird schlicht und ergreifend auf eine Neuerrichtung vergessen oder man begnügt sich bewusst mit dem Status der Beachtlichkeit, weil die Erneuerung zu mühselig und/oder kostspielig erscheint. Dabei wird meistens übersehen, dass eine beachtliche Patientenverfügung durchaus zu schwerwiegenden Komplikationen führen kann, und zwar nicht nur für die Betroffenen selbst, sondern auch für ihre Angehörigen, behandelnden Ärzte, etwaige Sachwalter und Gerichte.

Dies zeigt sich eindrucksvoll in einer Entscheidung des Obersten Gerichtshofs vom 08.10.2012, 9 Ob 68/11 g, EF-Z 2013/22, 30. Für eine schwer erkrankte Dame wurde pflegschaftsgerichtlich der Ehegatte zur Besorgung aller Angelegenheiten als Sachwalter bestellt. Die Pflegebefohlene verfügte über zwei jeweils nur beachtliche Patientenverfügungen, in denen sie festgelegt hatte, bei unheilbarer und wahrscheinlich bleibend schwerer geistiger oder körperlicher Behinderung lebenserhaltende Maßnahmen, etwa in Form künstlicher Ernährung, ausdrücklich abzulehnen.

Der gewiss in höchstem Maße verzweifelte Sachwalter wandte sich zur Klärung der Zulässigkeit eines auch nach den übereinstimmenden Angaben aller Angehörigen von der Patientin gewünschten Behandlungsabbruchs an das Pflegschaftsgericht. Im daraufhin abgehaltenen Verfahren verneinte der Oberste Gerichtshof schlussendlich aber generell jede Gerichtszuständigkeit in Ermangelung gesetzlicher Grundlagen. Eine alleinige Entscheidungsbefugnis des Sachwalters oder des behandelnden Arztes scheide ebenfalls aus. Vielmehr hätten Sachwalter und Arzt einvernehmlich über einen lebensbedrohenden Behandlungsabbruch zu befinden, soferne keine verbindliche Patientenverfügung vorliegt. Befürworte unter diesen Umständen aber auch nur einer von beiden die Lebenserhaltung, sei dieser stets der Vorrang einzuräumen!

In derartigen Situationen sind folglich alle Beteiligten und speziell die bedauernswerten Patienten plötzlich abhängig von persönlichen, religiösen, weltanschaulichen oder sonstigen Befindlichkeiten Dritter, denen sie unter Umständen vor Eintritt ihrer schweren Erkrankung nie begegnet sind. Selbst dann aber, wenn es sich beim Sachwalter und beim behandelnden Arzt um langjährige Vertraute handelt, lässt sich niemals eine auch nur annähernd gleichwertige Ausgangsposition schaffen, wie sie eine ordentliche, dh verbindliche Patientenverfügung ohne weiteres gewährleisten würde.