Das Recht auf Pflichtteilsminderung steht auch passiv Desinteressierten zu

Gemäß § 776 ABGB kann der Pflichtteil letztwillig auf die Hälfte gemindert werden, wenn man mit der pflichtteilsberechtigten Person zu keiner Zeit oder zumindest über einen längeren Zeitraum vor dem eigenen Tod nicht in einem Naheverhältnis stand, wie es zwischen solchen Familienangehörigen gewöhnlich besteht.

Hingegen verliert dieses Recht auf Pflichtteilsminderung, wer den Kontakt grundlos gemieden oder berechtigten Anlass für den fehlenden Kontakt gegeben hat.

Aus dieser Einschränkung ergeben sich naturgemäß eine Reihe von Abgrenzungs- und Streitfragen, wie sie der Oberste Gerichtshof in einer Entscheidung vom 06.09.2022, 2 Ob 116/22f, Zak 2022/591, 316 = JEV 2022/18, 155 (Bayer) = iFamZ 2023/38, 53 (Entleitner) = EvBl‑LS 2022/166 = JBl 2023, 300 = Walch, JBl 2023, 333 = EF-Z 2023/22, 36, zu beurteilen hatte.

Bereits seit 1999 trafen sich die im Jahre 2017 verstorbene Großmutter und die (nunmehr ihre Tante als Alleinerbin klagende) Enkelin (Tochter eines vorverstorbenen Sohnes der Großmutter) nur noch bei Familienfeiern. Zu persönlichen Gesprächen kam es nicht. Weder die Klägerin noch die Erblasserin bemühten sich um ein Gespräch oder die Aufnahme weitergehenden Kontakts. Teils kam es über mehrere Jahre hinweg auch zu überhaupt keinen Zusammenkünften.

Anhaltspunkte dafür, dass die Erblasserin (berechtigten) Anlass für den fehlenden Kontakt gegeben hätte, lagen im Gegenstand nicht vor, weshalb die von der verstorbenen Großmutter letztwillig verfügte Pflichtteilsminderung nur dann unzulässig gewesen wäre, wenn sie den Kontakt zur Enkeltochter grundlos gemieden hätte.

Dazu hielt der Oberste Gerichtshof Folgendes fest:

Der Ausschluss des Pflichtteilsminderungsrechts setzt grundsätzlich keinen vorangehenden Kontaktaufnahmeversuch der Pflichtteilsberechtigten voraus, sodass die Pflichtteilsminderung in diesen Fällen (wie vorliegend) dennoch ausgeschlossen sein könnte.

Somit blieb zu prüfen, ob der Umstand, dass sich (auch) die Erblasserin weder um persönliche Gespräche im Zuge der sporadischen Zusammentreffen bei Familienfeiern noch sonst um weitergehenden Kontakt bemühte, bereits eine „Meidung“ des Kontakts im Sinne des § 776 Abs 2 ABGB darstellte.

„Meiden“ bedeutet nach dem allgemeinen Sprachgebrauch (vgl www.duden.de), jemandem aus dem Weg gehen bzw sich von jemandem fernhalten.

Folglich hätte sich die Erblasserin dem Kontakt (auf welche Weise immer) entziehen müssen. Dies kann beispielsweise auch dadurch geschehen, dass auf allfällige Versuche der Kontaktaufnahme nicht reagiert wird. Einer aktiven Ablehnung eines Kontaktversuchs bedarf es hingegen nach § 776 Abs 2 ABGB nicht (mehr). Dennoch müsste ein gewisses (sanktionsbedürftiges) Verhalten der Erblasserin vorgelegen sein, das es gerechtfertigt hätte, ihr die Möglichkeit der Pflichtteilsminderung zu verwehren.

Hatten allerdings – wie im Gegenstand – sowohl die Erblasserin als auch die erwachsene Pflichtteilsberechtigte nur kein wechselseitiges Kontaktinteresse, verhielt sich die Erblasserin also bloß passiv und bemühte sich schlicht nicht darum, stellt dies (noch) kein „Meiden“ des Kontakts dar, das zum Ausschluss des Rechts auf Pflichtteilsminderung führen würde.

Daraus folgte für den vorliegenden Fall, dass das Recht auf Pflichtteilsminderung der verstorbenen Großmutter allein aufgrund ihres passiven Desinteresses an der Enkeltochter nicht ausgeschlossen war und somit rechtswirksam testamentarisch verfügt werden konnte.

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Foto und Fotobearbeitung: Melanie Schütz, © Copyright 2023