Von der zweiten, geträumten Welt – Interview mit dem Philosophen Robert Pfaller

Das Interview mit dem Wiener Philosophen Robert Pfaller kreiste um die Thematik, wofür es sich eigentlich zu leben lohnt und welche Werte nach der Diagnose einer unheilbaren Krankheit plötzlich an Bedeutung gewönnen. Er wurde 1962 in Wien geboren, lehrte als Professor für Philosophie und Kulturwissenschaft an der Universität für künstlerische und industrielle Gestaltung in Linz sowie an der Technischen Universität in Wien. Seit 2009 ist er Professor für Philosophie an der Universität für angewandte Kunst in Wien. Seine bekannteste Publikation trägt den Titel: „Wofür es sich zu leben lohnt. Elemente materialistischer Philosophie.“

Interessen und Prioritäten der Menschen können sehr unterschiedlich sein. Wo aber sehen Sie die große Schnittmenge, wenn es gilt, die wirklich lebenswerten Dinge zu benennen?

Um zu wissen, wofür es sich zu leben lohnt, brauchen die Menschen keinen Philosophen. Da fallen allen Leuten schon nach kurzem Nachdenken ausgezeichnete Beispiele ein. Was die Philosophie für die Menschen tun kann, ist allerdings, sie daran zu erinnern, sich diese Frage zu stellen. Das wird heute – unter Stress und allen möglichen Paniken bezüglich Gesundheit, Umwelt oder Sicherheit – allzu leicht vergessen.

Sobald man sich die Frage stellt und Antworten findet, wird man schnell auch auf einen gemeinsamen Nenner stoßen. Alles, wofür es sich zu leben lohnt, beinhaltet ein ungutes Element. Alkohol berauscht und schädigt die Leber, elegante Kleidung belastet das Budget, Sex ist unappetitlich und unanständig, Spazierengehen ist Zeitverschwendung. Um mit diesem negativen Element umgehen zu können, muss man sich die Frage stellen, wofür es sich zu leben lohnt. Sonst verfällt man in Panik und verzichtet freiwillig auf alles, was man vom Leben haben kann. Das tun, so scheint mir, immer mehr unserer Zeitgenossen.

Welche Werte treten Ihrer Meinung nach in den Vordergrund, wenn Menschen eine Krankheit ohne Heilungschancen diagnostiziert bekommen?

Abgesehen vom Wunsch, gesund zu werden, haben gerade auch schwerkranke Menschen oft den Wunsch nach einer kleinen Portion Leben, sei es ein Glas Bier, eine Zigarette oder eine Umarmung. Meist wird ihnen diese kleine Freude aber unter Verweis auf die Gesundheit verweigert. Sogar bei hoffnungslosen Fällen. Man sollte nicht übersehen, dass es für Leute, die wissen, dass sie bald sterben müssen, wichtig ist, sich noch einmal, wenigstens im Kleinen, das Gefühl verschaffen zu können, dass sie ein Leben gehabt haben.

Bedeutet das, Menschen, die auf ein erfülltes Leben zurückblicken, können den Tod besser akzeptieren, als jene, denen wenig Positives einfällt, wenn sie ihr Leben Revue passieren lassen?

Ja. Denn was wir oft fälschlich als Todesfurcht wahrnehmen, ist in Wahrheit die Befürchtung, überhaupt nicht gelebt zu haben.

Besonders bitter ist, wenn todkranke Menschen sich knapp vor ihrem Lebensende eingestehen müssen, Fehler gemacht zu haben, durch die ihre Lebensqualität über Jahrzehnte hindurch drastisch verringert wurde, beispielsweise eine Frau, die erkennen muss, 40 Jahre lang mit dem „falschen“ Mann verheiratet gewesen zu sein.

Welche Motive führen Ihrer Erfahrung nach dazu, wichtige und einschneidende Lebensentscheidungen, wie etwa einen Berufswechsel oder eine Trennung, permanent aufzuschieben?

Sich die Frage zu stellen, wofür es sich zu leben lohnt, schützt vor solchen Fehlentscheidungen. Es bedeutet aber auch, dem Tod ins Auge zu sehen. Darum drücken sich viele Menschen verständlicherweise vor dieser Frage und betreiben ihr ganzes Leben als eine Art „Prokrastination“ – also das permanente Vorschieben von Nebenbeschäftigungen vor die Dinge, die ihnen wirklich wichtig sind.

Allerdings sollte man nicht übersehen, dass Menschen zum Leben immer auch eine zweite, geträumte Welt nötig haben, die sie in ihrer ersten Welt leben lässt. So träumt der opportunistische Politiker, er wäre insgeheim ein großer Rebell; und der Schriftsteller, der vom Verfassen kitschiger Romane lebt, mag sich insgeheim vorstellen, er wäre ein avancierter Lyriker. Darum ist es vielleicht auch notwendig, um mit einem bestimmten Menschen lange Zeit gut leben zu können, ständig zu träumen, er wäre ganz der Falsche.

Sie meinen, es genügt nicht, sich mit dem Partner zufrieden zu geben den man hat, sondern man stellt die Beziehung in Frage, um sie interessanter und lebendiger zu empfinden, als sie in Wahrheit ist?

So, wie manche Leute nur mit dem Leben oder mit ihrem Job zurechtkommen, indem sie ständig mit dem Gedanken an Selbstmord oder Kündigung spielen, kommen manche auch mit ihren Partnern nur zurecht, indem sie immer wieder an Trennung denken. Das ist vielleicht nicht die lustvollste Methode, vor allem dann nicht, wenn es den Leuten nicht als Trick bewusst ist. Aber wirksam ist es durchaus: „Wer raunzt, bleibt“, sagt man in Wien.

Rauchen, fett- und zuckerhaltige Ernährung, Alkohol und Kaffee gelten allgemein als Genussmittel. Handelt es sich um Arten des Genusses, die man sich im Sinne der Entscheidungsfreiheit regelmäßig gönnen sollte, auch wenn man damit offensichtlich Krankheiten und eine Verkürzung der eigenen Lebensdauer riskiert?

In welchem Ausmaß man sich solche Dinge gönnt, kann man immer noch entscheiden. Man sollte sich nur nicht vom Unguten dieser Dinge völlig in Panik versetzen lassen und sie sich darum versagen. Gegen diese fanatische, angstbefangene Totalaskese hilft die Frage, wofür es sich zu leben lohnt. Selbst wenn man nach ruhigem Abwägen besonnen beschließen sollte, einen Genuss ganz bleiben zu lassen, ist das etwas anderes, als wenn man dasselbe von vorneherein und in fanatischer Panik tut.

Gehen Sie davon aus, dass Menschen, die sich über ihr unmittelbar bevorstehendes Lebensende bewusst sind, mehr Ehrlichkeit gegenüber sich selbst und anderen zugestehen und für sie Faktoren, wie die soziale Erwünschtheit und Angepasstheit tendenziell an Bedeutung verlieren?

Das kann man tatsächlich oft beobachten. Freilich gibt es auch das Gegenteil, wie beispielsweise Leute, die plötzlich religiös werden. An den Tod zu denken scheint mir nur in dieser einen Hinsicht sinnvoll, um sich die Frage zu stellen: Was muss ich tun, damit das, was vor meinem Tod kommt, ein Leben genannt werden kann? Zum Leben genügt es ja nicht, bloß in einem biologischen oder medizinischen Sinn lebendig zu sein. Denn nur in Bezug auf lebende Wesen stellen wir uns überhaupt die Frage: Ist das ein Leben?

Weshalb gibt es Wünsche oder Genüsse, deren Verwirklichung wir uns erst und nur im Wissen um den unmittelbar bevorstehenden Tod gönnen?

Der Aufschub, den Sie beschreiben, kommt nur zustande, wenn wir vergessen, uns die Frage zu stellen, wofür es sich zu leben lohnt. Wenn wir sie dagegen stellen, dann ist uns klar, dass wir morgen tot sein können, und dann wird jeder Moment des Lebens so kostbar, dass er nicht für Aufschub verschwendet werden darf.

Für viele gibt es in diesem Zusammenhang aber das Dilemma, in einem eigentlich verhassten oder langweiligen Beruf, in einer alles vereinnahmenden Beziehung oder sonstigen Aufgaben „gefangen“ zu sein, sodass letztenendes im Alltag wenig Zeit verbleibt, das Leben so richtig in vollen Zügen auszukosten.

Der antike Philosoph Epiktet bemerkte dazu: Über die Dinge, die wir nicht ändern können, brauchen wir uns auch nicht zu ärgern. Achtgeben sollten wir aber dort, wo wir selbst aus eigener Initiative zu Feinden unseres Glücks werden – meist, ohne es zu bemerken.

Zahlreiche Extremsportler, wie beispielsweise Bergsteiger oder Base-Jumper, die körperlich völlig gesund sind, finden offensichtlich Gefallen daran, permanent ihr Leben zu riskieren. Handelt es sich dabei Ihrer Meinung nach um eine gute Methode Glück und Lebenslust zu steigern oder sehen Sie darin speziell im Abgleich mit Personen, die an unheilbaren Krankheiten leiden, eher einer Geringschätzung des eigenen Lebens?

Mir fällt hier vor allem eine Diskrepanz in der Gegenwartskultur auf. Wenn wir heute jemanden rauchen sehen, befällt uns sofort Todesangst. In unseren Freizeitbeschäftigungen hingegen machen wir fast nur noch Dinge, bei denen wir uns mindestens das Genick brechen können. Ich glaube, der Zusammenhang zwischen diesen beiden Momenten, der übersteigerten Todesfurcht und der seltsamen Waghalsigkeit, ist folgender: Wenn wir nicht zu leben wissen, sondern ständig nur bemüht sind, das Leben zu erhalten, dann benötigen wir die Todesnähe, nämlich um uns dessen zu versichern, dass wir am Leben sind. Wer dagegen genießen kann, braucht den Tod nicht, um zu spüren, dass er lebt.

Inwieweit haben sich unsere Strategien, das Leben auszukosten und zu genießen, Ihrer Meinung nach in den letzten 30 Jahren verändert?

Vor 30 Jahren waren wir noch in der Lage, das Glück des Anderen als etwas solidarisch Teilbares zu erleben. Wenn der Andere höflich war, sich gut kleidete oder zum Beispiel rauchte, dann hatten wir das Gefühl, der macht das aus Pflichtgefühl gegenüber seiner Rolle in der Öffentlichkeit, er macht es, um mir angenehm zu sein und mich nicht mit seinen privaten Macken zu behelligen. Heute, da wir den Anderen nicht mehr in seiner öffentlichen Rolle, sondern als Privatperson wahrnehmen, hassen wir ihn für seine Eleganz und seinen Genuss. Wir glauben, er machte es aus Neigung, nicht aus Pflicht, und er würde darum auf unsere Kosten genießen.

Auch wir selbst empfinden die Tatsache, dass Geselligkeit mit einem Gebot zum Genuss verbunden ist, also zum Beispiel mit den anderen ein Glas zu trinken oder freundlich und unterhaltsam zu sein, zunehmend als unerträgliche Vorschrift. Wir wollen nur noch die Genüsse, die wir selber wollen, nicht die, die uns durch Andere nahegelegt werden. Leider ist aber zu bemerken, dass es wegen der zuvor beschriebenen unguten Dimension, die jedem Genuss anhaftet, kaum Genüsse gibt, die wir selber wirklich wollen. Zum Genuss brauchen wir die Gesellschaft und öffentliche Räume, die als solche funktionieren und nicht privaten Wünschen und Interessen unterworfen werden.

Aus dem Buch “Die Zeit der letzten Wünsche”