Verletzte Seelen

Die typische „Bilderbuchfamilie“, wie man sie aus Hollywoodfilmen, Fernsehserien oder Romanen kennt, findet sich im „wahren Leben“ nur selten. Dafür bietet der Alltag meistens einfach zu viel Konfliktpotenzial. Die Gründe für kleinere Auseinandersetzungen bis hin zu dauerhaften Zerwürfnissen gestalten sich vielschichtig.

Ein überstrenger Vater, dem eine penible Erziehung seiner Kinder stets wichtiger war, als ein freundschaftlich-liebevoller Umgang mit ihnen, oder eine Mutter, die aufgrund zahlreicher privater Verpflichtungen keine Zeit für ihre Lieben fand, stellen nur zwei Beispiele dar, wie es passieren kann, dass ein Eltern-Kind-Verhältnis ein Leben lang nicht so harmonisch verläuft, wie es eigentlich hätte sein können. Ganz zu schweigen vom komplizierten Verhältnis von Geschwistern untereinander. Lieben meine Eltern den Bruder mehr als mich, nur weil er im Berufsleben erfolgreicher ist? Warum wird meine Schwester bevorzugt, obwohl sie sich noch nie um unsere gemeinsamen Eltern gekümmert hat?

Eifersucht, Neid, Eitelkeit und erlebte Zurückweisungen sind nur einige der vielfältigen Ingredienzien, die sich im Laufe der Zeit zu einem veritablen Familienzwist zusammen brauen können. Da kommt es schon einmal vor, dass zwei Brüder im Pensionsalter noch eine für das gesamte soziale Umfeld völlig unerklärliche Prozesslawine gegeneinander lostreten, nur weil einer der beiden vor mehr als 60 Jahren neben der kleinen Schwester noch Platz auf dem Schoß der Mutter gefunden hat und der andere eben nicht mehr.

Unter günstigen Umständen findet man rechtzeitig vor dem Ableben eines Elternteils oder Geschwisters noch zu einem versöhnlichen Gespräch. Manchmal aber auch nicht.

Elisabeth Helminger berichtet beispielsweise von einem 70-jährigen Patienten. Er befand sich erst seit kurzer Zeit im Hospiz. Eines Tages traf sie seine etwa 40-jährige Tochter bei ihm im Zimmer an. „Ich nahm sofort deutliche Spannungen zwischen den beiden wahr.“ Schon bei der Dienstübergabe hatte Frau Helminger von einer Kollegin gehört, dass die Tochter in ihrer Kindheit wohl unter dem äußerst strengen und patriarchalen Erziehungsstil ihres Vaters gelitten haben dürfte.

Bevor die Seelsorgerin den Patienten besuchen konnte, wollten ihn die Pflegerinnen noch einmal umlagern. Eine gute Gelegenheit, um gemeinsam mit Rosa L., seiner Tochter vor dem Zimmer zu warten und ein Gespräch zu beginnen, das schließlich über eine Stunde dauern sollte. Rosa L. berichtete von massiver Gewalt, die ihr während ihrer Kindheit angetan wurde. Zu einer Aussprache mit dem Vater sei es nie gekommen. Allzu gerne würde die erwachsene Frau ihm aber noch vorhalten, wie schwer die Zeit als Mädchen gewesen war, wie sehr damals alle unter seiner Tyrannei gelitten haben. Diesen Wunsch hegte sie schon seit langem, fand aber irgendwie nie die passende Gelegenheit dazu. Vielleicht fehlte ihr aber auch nur der Mut zu diesem zweifellos längst überfälligen Schritt.

Frau Helminger ermutigte deshalb Frau L., noch am selben Tag mit dem Vater zu sprechen. Schon am nächsten Tag könne es nämlich zu spät sein. Rosa L. hatte allerdings Angst davor. Vor allem befürchtete sie, ihr Vater könne vor lauter Aufregung sterben. Sollte er aber tatsächlich kurz nach dem Gespräch aus dem Leben scheiden, würde dies ausschließlich an seiner Erkrankung und keineswegs an ihr liegen, versuchte Elisabeth Helminger sie zu beruhigen. Die Tochter fasste sich also ein Herz und ging in das Zimmer ihres Vaters um die Gelegenheit eines klärenden Gespräches wahrzunehmen. Die Seelsorgerin hatte ihr zwar noch angeboten, während dessen in der Nähe zu bleiben und ihr bei Bedarf zur Seite zu stehen, gerne auch danach, falls sie über den Verlauf der Begegnung sprechen wolle. „Wie Sie es wünschen. Wenn Sie mich brauchen ist es gut, wenn nicht, dann auch“, hatte sie Frau L. versichert.

Nach einiger Zeit im Zimmer ihres Vaters verließ sie aber gleich das Hospiz, ohne Frau Helminger noch einmal aufzusuchen. Der Vater war einige Tage darauf verstorben. Monate später kontaktiere Frau L. die Seelsorgerin und erzählte ihr davon, wie wichtig dieses Gespräch mit ihrem Vater für sie noch gewesen sei. „Auf Details ging sie nicht ein. Er habe nicht gesagt, dass es ihm Leid tat und trotzdem war es bedeutungsvoll für sie, ihn noch zu Lebzeiten darauf angesprochen zu haben“, so Elisabeth Helminger.

Eine andere Patientin befand sich schon seit Monaten im Helga-Treichl-Hospiz (nunmehr Raphael Hospiz Salzburg) und wurde von ihren Kindern nur selten besucht. Denjenigen, die manchmal kamen, machte sie entsprechende Vorhaltungen. Bis ihrem 50-jährigen Sohn eines Tages der Kragen platzte. Mit tränenerstickter Stimme stand er im Dienstzimmer der Hospizmitarbeiterinnen: „Meine Mutter ist für mich gestorben, als ich fünf Jahre alt war. Über Nacht ist sie mit einem anderen Mann abgehauen und hat sich nie mehr um mich gekümmert“, beklagte er sich bitterlich. Dennoch war es dieser Sohn gewesen, der ihren Aufenthalt im Hospiz organisiert hatte. Gab es andere organisatorische Dinge für sie zu erledigen, war er immer für seine Mutter da. Aber das war es dann auch. Reine Pflichterfüllung, mehr konnte und wollte der Mann einfach nicht für sie tun. „Wir haben ihm immer wieder Gespräche angeboten, nicht mit der Intention, dass er sich mit seiner Mutter versöhnen solle, sondern als mögliche Hilfestellung für ihn selber. Er lehnte sie ab und das war in Ordnung so“, erzählt Frau Helminger.

Auch die Pflegefachkraft Barbara Schnöll weiß von Besuchern zu berichten, die bis dahin unbewältigte Konflikte zu lösen versuchten, indem sie noch zu Lebzeiten eine Aussprache und Aussöhnung herbeiführten. „Sie fühlten sich besser, weil es geschehen ist. Das ist ja bei uns allen so. Wenn wir mit jemandem in Unfrieden sind, geht es uns hinterher besser, wenn eine Aussprache geglückt ist.“ Lang währende und komplizierte Konfliktsituationen würden von den Patienten im Hospiz aber nur selten angesprochen. Sie schnitten diese Themen meist kurz an, gingen aber nicht genau darauf ein. „Weil sie eben nicht so gerne darüber sprechen“, meint Frau Schnöll. Die Patienten seien im Allgemeinen zwar sehr mitteilungsbedürftig, was ihre Krankheitsgeschichte anbelangt. Ginge es hingegen um ihr Seelenleben, um soziale Konstellationen in der Familie oder im Freundeskreis, falle es auch schwerkranken Menschen nicht immer leicht, darüber zu reden. Daran ändere meist auch das offene und einladende Gesprächsangebot der Hospizmitarbeiter nur wenig.

Wir sind keine Schlichter und Richter“, konstatiert Waltraud S. Auch wenn den Hospizbegleitern Verschiedenes anvertraut werde, sei es nicht ihre Aufgabe einzugreifen und zu versuchen, Konflikte zu lösen. Wie jemand stirbt, darüber könne ein Begleiter nicht bestimmen. Im Mittelpunkt stehe nämlich der Patient, nicht das Rundherum. „Wir können nur da sein und zuhören. Es hat auch Platz, wenn beispielsweise eine Patientin sagt, sie ärgere sich über ihre Tochter oder über ihren Mann. Aber wir werden nie für jemanden Partei ergreifen. Das ist das oberste Gebot“, ist Frau S. aus langjähriger Erfahrung im Hospizdienst überzeugt.

Neben Konflikten kurz vor dem Ende des Lebens gibt es noch eine weitere Kategorie schmerzhafter Erfahrungen, nämlich sich eingestehen zu müssen, in der Vergangenheit falsche, unumkehrbare Entscheidungen getroffen zu haben.

Eine weitere Interviewpartnerin, die ebenfalls schon zahlreiche Betroffene während ihres Sterbeprozesses begleitet hat, aber anonym bleiben möchte, beantwortet die Frage, ob sie Menschen getroffen habe, die ihre Herangehensweise an das Leben kurz vor dem Ableben als falsch und korrekturbedürftig angesehen hätten, folgendermaßen: „Es gibt ein passendes Schuldbekenntnis: Ich habe Böses getan und Gutes unterlassen. Bei einigen kommt schon die Erkenntnis, dass sie eine falsche Lebensentscheidung getroffen haben. Zum Beispiel eine Frau, die sagt, sie habe den falschen Mann geheiratet, weil sie zu feig war, sich von ihm zu trennen. Oder sie habe ein Kind abtreiben lassen. Aber wenn sie sagt, diese und jene Entscheidung wäre aus heutiger Sicht besser gewesen, dann, so denke ich, gibt es dafür keinen Trost. Es tut einfach weh“.

Der Psychotherapeut Gilbert Weiss-Lanthaler arbeitet mit den Methoden der existenzanalytischen Therapie, deren Ziel es ist, zu einem sinnerfüllten Leben zu finden. Die Existenzanalyse spüre dabei auch Blockaden und Hindernisse auf, die den Menschen daran hindern, das eigene Leben mit innerer Zustimmung zu führen. Die Aufgabe bestehe darin, diese Blockaden zu lösen und die Voraussetzungen für ein Ja zum eigenen Leben zu schaffen. Unumgänglich auf dem Weg zu einem erfüllten Leben sei es, erläutert er im Rahmen des Interviews, Entscheidungen zu treffen und dem Leben damit eine „Form“ zu geben. In diesem Zusammenhang zitiert er aus dem Buch „Die Möglichkeit einer Insel“ des französischen Schriftstellers Michel Houllebecq: „Wir haben das unvollständige Paradigma der Form verworfen und trachten statt dessen danach, uns die Welt der unzähligen Potentialitäten zu eigen zu machen.“

Das Leben bietet viele Möglichkeiten“, betont Weiss-Lanthaler. „Die Gefahr besteht darin, dass wir uns in dieser Vielfalt an Möglichkeiten verlieren und das Leben nur mehr in Potentialitäten verläuft und keine Form mehr annimmt, wie das Zitat von Michel Houllebecq andeutet. Das ist beispielsweise der Fall, wenn wir uns möglichst viele Möglichkeiten offen lassen wollen und uns auf Lebenssituationen dann nicht mehr richtig einlassen, wenn uns die Entschiedenheit fehlt und wir stattdessen immer unentschieden bleiben“. Man müsse sich im Klaren sein: Die Wahl einer Möglichkeit bedeute immer auch die „Nicht-Wahl“ einer anderen. „Wenn ich mich für eine Sache entscheide, muss ich eine andere gleichzeitig lassen. Wir können nicht alle Möglichkeiten verwirklichen.“

Aus dem Buch “Die Zeit der letzten Wünsche”