Noch einmal die Tochter sehen

Erlebnisse mit dem Ehepartner, mit Familienmitgliedern oder engen Freunden werden in der letzten Phase des Lebens oft zur Priorität. Andrea Fink arbeitet seit zwei Jahren als ehrenamtliche Mitarbeiterin im Helga-Treichl-Hospiz (nunmehr Raphael Hospiz Salzburg). Im Jahr 2010 verbrachte sie vier Monate lang jeden Tag in diesem Haus. Sie begleitete ihre 74-jährige Mutter, die an einem aggressiven Gehirntumor litt. Zahlreiche Ehrenamtliche haben zuvor einen geliebten Menschen im Hospiz betreut. Sie haben die Vorzüge und die Notwendigkeit der Hospizbewegung hautnah miterlebt, die ohne die unentgeltliche Unterstützung vieler Helfer völlig undenkbar wäre.

Dennoch ist diese längst unverzichtbare Institution ständig mit finanziellen Engpässen und der Ignoranz politischer Entscheidungsträger konfrontiert. Es scheint sich an den kalten Buffets von Parteiveranstaltungen noch nicht herumgesprochen zu haben, dass diese Einrichtung laufend Beiträge zur Nächstenliebe von unschätzbarem Wert leistet und dennoch bedeutend kostengünstiger ist, als die meisten Alternativen in der Behandlung und Betreuung sterbenskranker Menschen.

Andrea Fink erinnert sich an eine Zeit vieler intensiver Gespräche mit Krankenschwestern, Ärztinnen und anderen ehrenamtlichen Mitarbeitern, während ihre Mutter ein Zimmer im Helga-Treichl-Hospiz (nunmehr Raphael Hospiz Salzburg) bewohnte. Immer schon wollte sie im sozialen Bereich unterstützend mitwirken. In der Hospizarbeit fand sie für sich eine gute Möglichkeit, aktiv und nach ihren Vorstellungen zu helfen.

Im Sommer letzten Jahres sah Frau Fink aber die Zeit gekommen für eine einmonatige Auszeit. Die intensive Betreuung eines gebürtigen Philippiners über einen Zeitraum von drei Monaten hinweg hatte ihr viel Kraft abverlangt. „Werde ich sterben?“, hatte er sie eines Tages gefragt. Sie antwortete ehrlich mit ja. „Wann?“, wollte der Hospizpatient wissen. „Ich weiß es nicht, das weiß keiner“. Zwei Tage später war das Leben des erst 50-Jährigen zu Ende.

Besonders wichtig in dieser letzten Phase war ihm die Familie. Vor dem Tod wollte der Mann unbedingt noch einmal seine Tochter sehen. 15 Jahre waren inzwischen vergangen, seit er die damals Siebenjährige zum letzten Mal persönlich in den Armen gehalten hatte. Sie war mit ihrer Mutter auf die Philippinen zurückgekehrt. Sein sehnlichster Wunsch sollte schließlich doch noch rechtzeitig in Erfüllung gehen. „Es bedeutete eine unglaubliche Freude für ihn, seine Tochter zu sehen. Er wollte noch Ausflüge mit ihr machen“, so Andrea Fink. In der jahrelangen Zeitspanne davor beschränkten sich die Kontakte zwischen Vater und Tochter auf E-Mails oder Telefonate per Skype. Immer wieder hatte er ihr Geld geschickt, sie aber nie umarmen oder mit ihr spielen können.

Natürlich wäre der Patient auch gerne persönlich mit dabei gewesen, als seine Tochter am Flughafen in Salzburg abgeholt wurde. Er fühlte sich an diesem Tag jedoch sehr schlecht und konnte sie deshalb erst im Hospiz begrüßen. Für drei Monate hatte die 22-Jährige ein Visum erhalten. Zwei davon konnten Vater und Tochter noch miteinander verbringen, bevor er den Kampf gegen seine Krankheit endgültig verloren hatte.

Die philippinische Gemeinde in Salzburg ist groß und hilft sich gegenseitig, wo sie kann. Zahlreiche Mitglieder waren mit der Mutter der 22-Jährigen befreundet und hatten die Reise des Mädchens zu ihrem Vater organisiert. Seit seine Tochter, die in Österreich geboren wurde, auf den Philippinen lebte, war der 50-Jährige nicht mehr in sein Heimatland gereist. Der regelmäßige Kontakt riss dennoch nie ab. Nun lebte die Tochter wieder in seiner Wohnung, in die er aber selbst nur mehr selten aus dem Hospiz zurückkehren konnte, allenfalls um ein paar Sachen abzuholen.

Die beiden waren sich allerdings über die Jahre fremd geworden. „Für die Tochter war es nicht einfach, hierher zu kommen und ihren sterbenden Vater zu sehen. Zwei Monate zuvor hatte sie auf den Philippinen ihre Mutter verloren.“ Die 22-Jährige sei mit der Situation schlichtweg überfordert gewesen. Sie konnte nur Englisch sprechen und ihr Vater wartete mit einer Reihe von Erledigungen auf sie. „Der Anfang war nicht so leicht, aber die beiden haben mit der Zeit ein gutes Verhältnis zueinander gefunden. Sein sehnlichster Wunsch ist ihm aber jedenfalls kurz vor dem Tod doch noch erfüllt worden“, nur das habe letztlich gezählt, resümiert Andrea Fink und scheint all die Schwierigkeiten und Belastungen dieser Betreuungsphase gedanklich irgendwie beiseitegeschoben zu haben.

Aus dem Buch “Die Zeit der letzten Wünsche”