Leben mit geschenkter Zeit

Das Gespräch mit Herrn Friedrich Führer fand an einem sonnigen Vormittag im Herbst 2012 in seiner Wohnung in der Stadt Salzburg statt. Der 71-Jährige war bis 2002 Offizier beim Bundesheer. Die letzten Jahre mit seiner damals im Wachkoma liegenden Frau änderten nichts an seinen von großer Zuneigung und Liebe geprägten Erinnerungen. „Wir hatten eine sehr intensive Beziehung. Unsere Liebe hielt bis zum Tod.“ 

Wie begann die Krankheit Ihrer Frau?

Vom Übergang des Jahres 1998 auf das Jahr 1999 wurde bei ihr zunächst ein gutartiger Gehirntumor festgestellt. Sie war damals 59 Jahre alt. Bis 2004 wurde sie dreimal operiert. Die Situation verschlimmerte sich, als sie 2006 einen Gehirninfarkt erlitt. Als Folge trat eine einseitige Lähmung auf und sie konnte nicht mehr sprechen. Die anschließende Therapie führte zu einer vorübergehenden Besserung und ich kümmerte mich gemeinsam mit meiner Tochter bei uns zu Hause um sie. Zweimal pro Woche brachten wir meine Frau zur Tagesbetreuung in ein Pflegezentrum. Nach einer neuerlichen Verschlechterung ihres Zustandes wurde uns von den dortigen Spezialisten geraten, uns an die Hospizbewegung zu wenden.

Ich hatte das Tageshospiz damals auf einer anderen Ebene angesiedelt und dachte, die Leute würden diese Einrichtung knapp bevor sie sterben in Anspruch nehmen, um dort ihre letzten Tage zu verbringen. Aber das war ja bei meiner Frau nicht der Fall. Ich fuhr dennoch mit ihr hin und die leitende Ärztin meinte, ich solle regelmäßig mit meiner Frau vorbeikommen, obwohl sie eigentlich nicht richtig dazu passte. Alle Besucher im Tageshospiz waren noch mobil, konnten am Tisch sitzen, spielen und mit den Betreuern sprechen. Meine Frau war dazu leider nicht mehr in der Lage, da sie völlig sprachunfähig im Rollstuhl saß.

Danach habe ich dann zweieinhalb Jahre lang die tollste Unterstützung durch das Tageshospiz erhalten und mich selbst nach dem Tod meiner Frau bis heute immer wieder zu Besuchen dort eingefunden. Man wird aufgenommen wie in einer Familie. Ansonsten haben wir meine Frau grundsätzlich zu Hause gepflegt, was allerdings bald nur im Team möglich war. Es war angenehm für mich, dass die gemeinsame Pflege so gut vonstatten ging. So mussten wir kein schlechtes Gewissen haben, was sehr wichtig für mich war.

Wie ging es Ihrer Frau nach den Operationen?

Einige Zeit nach den ersten Operationen befand sie sich wieder in einem beinahe tadellosen Zustand. Sie konnte den Haushalt weiterführen und wir unternahmen noch sehr schöne Reisen. Es wurde zunächst ja nur ein gutartiger Tumor festgestellt. Wir hatten im Bekanntenkreis jemanden, der auch unter diesem so genannten Asterozytom litt und ich wusste, dass es nicht vollkommen entfernt werden kann.

Ab 1999 war mir klar, dass wir mit geschenkter Zeit lebten. Meiner Frau war das eher weniger bewusst. Sie lebte im Glauben, dass der Tumor gutartig bleiben würde. Sie erholte sich stets wieder nach den Operationen. Nach dem dritten Eingriff stellte man dann allerdings fest, dass es bösartige Herde gab, weshalb Chemo- und Strahlentherapien nötig wurden. Mir war klar, dass wir bald darauf in eine kritischere Phase kommen würden. Unsere Zeit war plötzlich sehr eingeschränkt. Wir loteten aus, ob sich zwischen den Therapien eine Reise ausgehen würde. Wir durften dem Arzt nicht unbedingt sagen, dass wir uns nicht zu Hause ausruhten. Wir flogen in die Türkei, besichtigten dort Istanbul und Izmir, beides wunderschöne Hafenstädte. In den Jahren zuvor waren wir ein paar Mal in Griechenland und unternahmen auch daheim kleinere Ausflüge in der näheren Umgebung. Dabei mussten wir natürlich auf ihre Schonung achten, wenn wir beispielsweise eine kleine Bergwanderung machten. Früher waren wir immer sehr viel in den Bergen unterwegs gewesen. Später aber begleiteten mich bei den Ausflügen stets meine Sorgen im Hinterkopf.

Denken Sie, Ihre Frau war sich bewusst darüber, dass ihre Krankheit lebensbedrohlich sei?

Nein, ich glaube nicht. Es war ihr lediglich klar, dass sie nicht so schnell wieder stabil sein würde. Sie bekam schon mit, dass sich ihr Zustand verschlechterte. Nach der dritten Operation kam der Gehirninfarkt. Drei, vier Monate später folgte ein Zweiter. Es war für uns ein großes Problem, erkennen zu müssen, dass es nun keine Stabilisierung mehr geben und sich ihr Zustand vielmehr laufend verschlechtern werde.

Setzte Ihre Frau ab 1999 andere Prioritäten in ihrem Leben?

Nein, das Leben ging eigentlich ziemlich gleich weiter. Sie kümmerte sich viel um die Familie, um unsere beiden Kinder und unsere beiden Enkelkinder. Gesünder konnte sie nicht mehr leben, weil sie immer schon sehr bewusst gelebt hatte. Sie trank keinen Tropfen Alkohol und hat nie geraucht. Sie hatte immer viel Obst und Gemüse gegessen. Die Ärzte haben sich später fast darüber gewundert, wie stark sie während ihrer Krankheit war. Sie hat trotz ihrer schweren gesundheitlichen Beeinträchtigungen wohl auch deshalb eine verhältnismäßig lange Zeit überlebt.

Hat Ihre Frau in der Zeit bevor die Chemotherapie begann, Ihnen gegenüber irgendwelche Sorgen geäußert oder hat sie sich verhalten, als ob das Leben ganz normal weiterlaufen würde?

Sie hat nie irgendeine Besorgnis geäußert. Für uns war sie so geblieben, wie vorher. Sie sagte nie, was wäre wohl, wenn sich mein Zustand verschlechtern würde? Es war angenehm, dass sie soweit auch keine anderen Beschwerden hatte. Sie hatte beispielsweise nie Kopfweh.

Denken Sie, dass Ihre Frau sich wirklich keine Sorgen machte, oder hat Sie vielleicht einfach nur nicht mit Ihnen darüber gesprochen?

(Herr Führer atmet tief durch und versinkt für kurze Zeit in Gedanken.) Das ist schwierig zu beantworten, weil wir nie über ihren Zustand sprachen. Wir redeten nie über ihre Krankheit und mögliche Entwicklungen. Auch nicht in der Phase der Chemotherapie. Wir waren der Meinung, dass der Gesundheitszustand wenigstens gleichbleibend aufrecht zu erhalten wäre. 2004 gab es ja noch die erfreuliche Auskunft der Ärzte, der Tumor sei stabil. Man konnte aber nicht mit Gewissheit prognostizieren, ob die bösartigen Herde wieder auftauchen. Ich glaube nicht, dass sie etwas verdrängte. Sie war überzeugt davon, dass alles positiv ausgehen würde. Sie hat auch nie geäußert, dass ihr die Chemotherapie zu viel sein würde. Für sie bedeutete das, wieder gesund werden zu können.

Dürfen wir fragen, wie Sie Ihre Frau kennen gelernt haben?

Sie war meine Sandkastenliebe. Kennen gelernt habe ich sie während der Jahre 1944, 1945 und 1946 im Waldviertel. Sie besuchte uns damals immer mit ihren Tanten, die mit meinen Eltern befreundet waren. Ich war drei Jahre alt. Sie lebte damals im Weinviertel beziehungsweise in der Lehrerbildungsanstalt Eisenstadt. In den Sommerferien sahen wir uns aber immer wieder im Waldviertel. Nach der Matura suchten wir bewusst verstärkt Kontakt zueinander. Auch brieflich. Sie war zu dieser Zeit Volksschullehrerin in Dornbirn und ich besuchte die Militärakademie in Wiener Neustadt. Zu schreiben war eine wunderschöne Angelegenheit. Dienstags oder Mittwochs wusste man immer, dass ein Briefchen vom Wochenende kommen würde. Diese Distanz hatte auch etwas Reizvolles. Wir wussten die Zeit zu schätzen, wenn wir uns treffen konnten. Wenn es dienstlich möglich war, besuchte ich sie auch in Dornbirn. Das war damals mit dem Zug eine kleine Weltreise. Am Samstag hin, am Sonntag wieder zurück. Ich wollte dann nach Salzburg ziehen, wo ich in der Kaserne schon eine kleine Dienstwohnung hatte. Als ich 26 Jahre alt war, habe ich sie aus Dornbirn hierher geholt. Ich musste vorher noch ein Heim schaffen. Einige Monate hatten wir zusammen in der Kaserne gelebt. Ab 1968 lebten wir dann hier in unserer Wohnung, in unserem Nest.

Was war für Sie beide während dieser schwierigen Phase in den letzten Jahren besonders bedeutsam?

Wichtig war immer, dass wir gut miteinander auskommen, und dass wir uns mit den Kindern gut verstehen. Familiär funktionierte bei uns immer alles sehr gut. Wir hörten, dass es rundherum Probleme in den Ehen und Familien gäbe. Das blieb uns erspart. Meine Frau hatte immer dafür gesorgt, dass wir ein gutes wohnliches Umfeld hatten. Nachdem ich alles andere als ein Hausmann bin, war das für meine Frau wichtig. Sie machte das phantastisch, dafür muss ich ihr unendlich dankbar sein. Sie war eine gute Hausfrau und Mutter. So konnte ich mich im Beruf ordentlich frei spielen. Ich war häufig viel weg von Zuhause. Für meine Frau war deshalb der Kontakt zu den Nachbarn sehr wichtig. Sie war so etwas wie ein Verbindungsglied zu unserem sozialen Umfeld.

Denken Sie rückblickend manchmal, wie konnte ich die ganze Pflege nur schaffen?

Wir stolperten da hinein. Mit Pflege hatten wir uns noch nie auseinandergesetzt. Wichtig war, dass ich das gemeinsam mit meiner Tochter machen konnte, die damals 30 Jahre alt war. Wenn wir gewusst hätten, wie der Zustand meiner Frau 2006 sein würde, weiß ich nicht, ob wir uns das zugetraut hätten. So wuchsen wir kontinuierlich hinein. Die Zeit der Pflege war eigentlich keine Zeit der Überbelastung, sondern meine Frau und ich wurden viel inniger. Es war irgendwie auch so, dass man etwas Gutes zurückgeben konnte. Leider gab es am Schluss von ihrer Seite keine Reaktionen mehr. Es war nicht auszumachen, ob es ihr gut geht oder was sie wahrnimmt. Das war in den letzten Monaten das Schlimmste. Im Hospiz sagte man uns, auch wenn sie keine Reaktion mehr zeigen würde, bekomme sie trotzdem vieles mit. Es war wichtig für uns, dass bei ihr etwas ankommt, auch wenn wir es nicht merkten. Wenn während der Pflege Zeit blieb, fuhren wir hin und wieder mit dem Rollstuhl zu einem schönen Platz. Für eine halbe Stunde saßen wir gemeinsam in der Sonne. Dann mussten wir wieder zurück, um zu Essen und um die Medikamente einzunehmen. Es war eine Zeit, in der wir gerne zusammen waren.

War es für Ihre Frau von Bedeutung, an welchem Ort sie sterben würde?

Das Problem war, dass wir darüber vorher nie nachgedacht hatten. Der Hirninsult kam 2006 so schlagartig, dass wir uns auch später nicht mehr austauschen konnten. Ich glaube schon, dass es ein Wunsch meiner Frau war, zu Hause zu sterben. An ihrem Todestag wurde das irgendwo fast ersichtlich. Ich hatte sie noch ins Tageshospiz gebracht und machte noch einige Besorgungen, kam dann mittags wieder vorbei, um nach ihr zu sehen. Meine Kinder waren schon bei ihrer Mutter, weil sie verständigt wurden, dass ihr Zustand sehr schlecht sei. Die Ärzte und Pfleger hatten gemeint, dass sie wahrscheinlich in den nächsten zwei bis drei Stunden sterben werde. Dem war aber nicht so.

Normalerweise schließt das Tageshospiz knapp vor 16 Uhr seine Türen. Dort wollte man nicht, dass ich meine Frau mit dem Rollstuhl wieder nach Hause bringe. Ich wünschte aber auch nicht, dass das Hospizpersonal wartet, bis meine Frau stirbt. Eine Alternative wäre gewesen, ins Helga-Treichl-Hospiz (nunmehr Raphael Hospiz Salzburg) oder ins Krankenhaus zu fahren. Dort wäre eine stationäre Aufnahme möglich gewesen. Ich sagte, mir wäre es lieber, wenn sie nach Hause kommt.

Um circa 17 Uhr fuhren wir mit ihr in unsere Wohnung. Wir aßen dann noch normal zu Abend. Dann ergab sich bei ihr ein Zustand, mit dem wir noch nie konfrontiert waren. Die Ärztin im Hospiz hatte gemeint, wir sollten sofort anrufen, wenn etwas Besonderes vorfallen würde. Ich bat meine Tochter, sie zu verständigen und ihr den Zustand meiner Frau zu schildern und nachzufragen, ob es nötig sei, dass die Ärztin vorbeikommen würde. Während meine Tochter telefonierte, begann meine Frau immer leiser zu atmen. Und als meine Tochter vom Telefon zurückkehrte, hat meine Frau so richtig das Leben ausgehaucht. Im wahrsten Sinne des Wortes. Da beschloss sie offensichtlich für sich, dass es jetzt der günstigste Zeitpunkt sei.

Es wurde zuvor schon oft gesagt, ihr Zustand sei so schlecht, dass sie sterben könnte. Aber da hatte sie offensichtlich noch nicht abgeschlossen. Ich denke, dass es für meine Frau angenehm war, zu Hause zu sein. Ich nehme an, dass sie bewusst mitbekommen hat, dass sie sich in ihrem Bett befindet.

Was geschah dann?

Woran man zuvor wenig denkt, ist, dass nach dem Tod die Bürokratie beginnt. Man fragt sich, was zu tun ist, welche Schritte zu setzen sind. Ich sagte zu meiner Tochter, sie solle bitte die Ärztin informieren. Die Ärztin meinte, wird sollten uns eine Stunde lang hinsetzen und überhaupt nichts machen. Wir sollten uns damit auseinandersetzen, dass meine Frau tot ist. Und wenn wir dann soweit seien, sollten wir den Bereitschaftsdienst der Bestatter anrufen. Es war Freitagabends. Um 21 Uhr rief ich dort an. Ich wollte, dass meine Frau bis zum nächsten Tag bei uns bleibt, damit die ältere Tochter mit den Enkelkindern kommen kann. Die Verabschiedung durch die Kinder und Enkelkinder war noch möglich. Ich hatte auch noch gefragt, wie das mit dem Ankleiden funktionieren würde, denn am nächsten Tag wäre das durch die Leichenstarre sehr schwierig gewesen. Wir kleideten sie also an und wählten ein Kleid, von dem wir wussten, dass sie es gerne getragen hat. Am nächsten Tag wurde mit den Bestattern noch vereinbart, dass ich am Nachmittag vorbeikommen sollte, um die Begräbnismodalitäten zu klären.

Wie gelingt es in dieser Situation zu funktionieren, denn eigentlich möchte man doch trauern?  

Die Trauer tritt zunächst einmal auf die Seite, weil alles sehr hektisch zugeht. Man muss sehr viel organisieren. Am Samstagnachmittag war ich dann bei dem Bestattungsunternehmen. Die Frage war, wo kann sie bestattet werden, wie kommt man zu einem Grab? Es galt, das Begräbnis zu organisieren, den Gottesdienst, man musste mit dem Pfarrer sprechen. Auch der Leichenschmaus war zu organisieren. Als wir das Grab aussuchten, begleitete uns jemand von der Friedhofsverwaltung. Er hatte einen Plan mit hunderten freien Stellen dabei. Es bedeutete drei Tage lang Stress. Erst nachdem der Sarg in der Erde war, kam die Zeit, in der ich mir bewusst darüber wurde. Jetzt ist es geschehen, sie ist nicht mehr da. Aber da muss man durch.

Findet man in dieser Situation Trost innerhalb der Familie?

Da meine Kinder in Salzburg leben, war der Tod meiner Frau gemeinsam zu verarbeiten. Das verstärkte einerseits die Trauer und den Schmerz sogar noch, weil es für die Enkelkinder bei der Oma ein schönes Leben war. Auf der anderen Seite ist es erfreulich, dass die Enkelkinder alles mitbekommen haben. Sie konnten mit der Zeit auch lernen, damit umzugehen. Sie zeichneten etwas für die Oma, das wir dann am Grab aufhängten. Wir sprechen auch noch oft über sie. Dadurch schlittert man nicht so in die Einsamkeit. Das tut schon gut. Heute mache ich viele Reisen. Nicht weil ich etwas verdrängen möchte, sondern weil ich das grundsätzlich gerne mache. Meine Frau liegt am Kommunalfriedhof begraben. Ich persönlich bin der Meinung, dass es einen Ort geben sollte, an dem man den Kontakt zu den Toten aufrecht halten kann. Dabei ist es irrelevant, ob es sich um ein Erdgrab oder ein Urnengrab handelt. Ich bin jeden zweiten Tag am Friedhof, um das Öllicht zu erneuern. Es ist ein Platz, an dem der Mensch nicht verschwindet. Ich bin immer gerne auf Friedhöfe gegangen, die Toten bleiben dort ein Teil unserer Welt.

Aus dem Buch “Die Zeit der letzten Wünsche”