Leben im Hier und Jetzt
Wer beim Begriff „Hospiz“ nur an eine Einrichtung zur Sterbebegleitung denkt, irrt. Vielmehr handelt es sich um eine Pflegeeinrichtung für „Lebende“. Kein Arzt ist im Stande, exakte Prognosen eines Krankheitsverlaufes zu erstellen. Ein wesentlicher Unterschied zwischen Menschen, die den sicheren Tod bereits vor Augen haben und anderen, dürfte darin liegen, dass erstere allenfalls bewusster und „wacher“ leben. Sterbenden beschert manchmal ausgerechnet das Wissen um den bevorstehenden Abschied eine besonders intensive Lebensphase. Spätestens jetzt ist die Zeit gekommen, um abzuwägen, was man auf dieser Welt noch gerne „erleben, erledigen oder sich gönnen“ möchte. Die Zeit der letzten Wünsche eben.
Wie bei vielen brachte die Arbeit mit schwer kranken Menschen auch bei Klaudia Fleck bedeutende Auswirkungen auf ihre persönliche Einstellung mit sich. „Man bekommt dieses Bewusstsein. Ich sehe wirklich immer wieder, wie kurzlebig und wertvoll unser Leben ist.“ Bernhard M. zum Beispiel, hatte sich nichts ahnend mit Freunden in einem Restaurant getroffen. Plötzlich kippte er vom Stuhl. Zuerst glaubten alle, ihm sei lediglich schlecht geworden. Im Krankenhaus wurde allerdings eine schreckliche Erkrankung diagnostiziert. Operationen und Chemotherapien bestimmten fortan seinen Weg. Alles veränderte sich von einem Tag auf den anderen. Der diagnostizierte Kopftumor bescherte dem ehemaligen Filmemacher eine „Behandlungstour“ durch diverse Spezialkliniken in Wien und Innsbruck, bevor er in einem Hospiz in Salzburg stationär aufgenommen wurde.
Zwei Jahre verbrachte er dort und verstarb im Alter von nur 40 Jahren.
So eine lange Betreuung im Hospiz ist allerdings eine seltene Ausnahme. Begleitet werden in einem Hospiz ausschließlich Menschen mit einer schweren, bereits sehr fortgeschrittenen Erkrankung und einer dadurch nur mehr begrenzten Lebenserwartung.
Das Helga-Treichl-Hospiz Salzburg (nunmehr Raphael Hospiz Salzburg) wurde im Jahre 2002 als eigenständige Station des Pflegeheimes „Haus des Roten Kreuzes“ im Salzburger Stadtteil Morzg eröffnet. Östlich des Siedlungsraumes von Morzg liegen ein weitläufiger Landschaftsgarten, eine schöne Allee und die weiträumige Schlossanlage Hellbrunn. Etwa 2.500 Bewohner leben in Morzg, das aufgrund seiner zahlreichen Villen und großzügigen Grünflächen zu den schönsten Stadtteilen Salzburgs zählt. Gerade in der letzten Phase des Lebens kommt einer idyllischen Umgebung, in der man sich geborgen fühlen kann, ein besonderer Stellenwert zu.
„Der Verlauf von Bernhards Krankheit zeigte es wieder. Man sollte die Finger von Prognosen lassen. Wir gehen sehr vorsichtig damit um. Was bringen sie auch? Für Angehörige dienen sie eventuell noch als Orientierung, um sich Urlaub zu nehmen, um für den Patienten da zu sein. Aber Verlass auf Prognosen gibt es keinen. Wir kommen in die Welt und wir werden abgeholt, wann, das haben wir nicht in der Hand“, so Klaudia Fleck. Wichtig sei in dem Moment nur noch das Jetzt!
Diese Sichtweise wurde in der einen oder anderen Form von beinahe jedem Interviewpartner geteilt. Konzerte und sonstige Vergnügungen würden nicht mehr länger aufgeschoben. Dass die Zeit läuft, werde einem in diesem Berufsfeld oft genug vor Augen geführt. Sprüche, wie „Das Wichtigste im Leben ist die Gesundheit“ oder „Lebe jeden Tag, als wäre es dein letzter“, bekämen hier eine neue Bedeutung. Es handle sich nicht mehr um einfach nur so dahingesagte belanglose Alltagsweisheiten, sondern plötzlich um einen ernst zu nehmenden Auftrag: Jeden Tag, an dem man sich ausreichend gut fühlt, sollte man als Geschenk annehmen und alle Möglichkeiten wahrnehmen, das Leben auszukosten.
Hospizmitarbeiter stellen sich deshalb auch vornehmlich die Frage, was sie momentan, im Hier und Jetzt, mit und für die Patienten einschließlich ihrer Angehörigen tun können. Aus dieser Überlegung stammte wohl auch die Idee Klaudia Flecks zur Etablierung eines Kaffeehauses im Hospiz. So weit es den Patienten gesundheitlich möglich ist, sollte ein Ort geschaffen werden, an dem alle ein Stück weit zusammenrücken, wo man eben gemeinsam etwas trinken, essen und Gespräche führen kann.
Der gesundheitliche Zustand von Bernhard M. veränderte sich ständig. Zwischendurch ging es ihm extrem schlecht, dann gab es wieder Tage, an welchen er sich besser fühlte. Manchmal konnte der arme Mann kaum eine Tasse halten, weil er so stark zitterte. Hilfe wollte Bernhard M. selbst dann nicht annehmen, wenn er den Inhalt bereits verschüttet hatte. „Seine Autonomie, das Behalten der Selbstbestimmung, war ihm besonders wichtig“, erinnert sich seine Therapeutin. Ihm dezent einen Strohhalm anzubieten, das war vielleicht noch eine Möglichkeit, mit der er sich einverstanden zeigen konnte.
Die Kleidung von Herrn M. sollte regelmäßig in die Reinigung gebracht werden. Das war ihm ebenso wichtig, wie polierte Lackschuhe zu tragen. Patienten im Hospiz finden sich zwar in einer völlig neuen Lebenssituation wieder, individuelle Gewohnheiten aufgeben wollen aber dennoch nur die Wenigsten. So lange es die Krankheit zulässt, lebt jeder so weiter, wie er es bisher gewohnt war. Nun geht es darum, der verbleibenden Zeit noch so viel Qualität, wie möglich abzuringen. Für Bernhard M. hieß das, hin und wieder lange auszuschlafen und im Wohnzimmer des Hospizes in aller Ruhe zu frühstücken. Er belebte diesen Raum, genoss und aß in seinem eigenen Tempo, hin und wieder sogar mehrere Stunden lang.
Seit seiner niederschmetternden Diagnose war er nicht mehr beruflich tätig gewesen. So traf es sich gut, dass Klaudia Fleck im Rahmen ihrer Ausbildung einen Kurzfilm zum Thema Palliativarbeit machen wollte. Palliativarbeit als Teilaspekt der gesamten Hospizarbeit basiert vor allem auf medizinischen und psychologischen Therapien zur bestmöglichen Versorgung der Patienten. In einem kurzen filmischen Beitrag sollte vermittelt werden, welche Lebensfreude Tiere Patienten vermitteln können. „Filme sind ja deine Branche, möchtest Du nicht gemeinsam mit mir an einem arbeiten?“, fragte sie schließlich den mittlerweile 39-jährigen Patienten. Er war begeistert. Auch wenn die beiden manchmal ziemlich große Auffassungsunterschiede zu überwinden hatten, entwickelte sich ein tolles Projekt, das alle Teilnehmer in seinen Bann zog.
In der Umsetzungsphase wurde sogar ein gemeinsamer Ausflug mit drei Kolleginnen aus der Palliativakademie, die ebenfalls an der Entstehung des Filmes mitwirkten, unternommen. Ziel der Fahrt war ein Pferdestall etwa 20 Kilometer von der Stadt Salzburg entfernt. Zahlreiche Hunde und Katzen machten die ländliche Idylle perfekt und lieferten eine gute Kulisse für sagenhaft schöne Aufnahmen.
Die Nacht auf seinen 40. Geburtstag arbeitete Bernhard M. beinahe durch. Um fünf Uhr früh konnte er die fertig geschnittene DVD an Klaudia Fleck übergeben. Immer wieder hatten die beiden zuvor besprochen, wie der Kurzfilm gestaltet werden sollte, wo es noch etwas zu korrigieren gebe und was sich schon sehen lassen konnte.
Aufgrund der fortgeschrittenen Erkrankung hatte er Schwierigkeiten, die Tastatur mit seinen Fingern zu bedienen. Seine Arbeit ging deshalb nur sehr langsam voran. Trotzdem oder gerade deshalb wollte Bernhard M. sein Werk unbedingt noch in dieser Nacht fertig stellen. Arbeit als Triebfeder. Leidenschaftliches Schaffen, abseits der belastenden Pflicht, den Lebensinhalt damit finanzieren zu müssen, gewinnt offenbar gerade unter diesen speziellen Umständen eine besondere Qualität.
Eine ähnliche Geschichte erzählt von Herrn Lukas R. Dieser Patient kam mit unerträglichen Schmerzen ins Tageshospiz. „Wer nicht gesehen hat, in welchem Zustand ich damals war, würde es nicht glauben. Ich war fast am Sterben“, wunderte er sich später häufig über sich selbst im Gespräch. Zwar nahm er eine Schmerztherapie in Anspruch, lehnte aber eine weitere Chemotherapie dezidiert ab, zumal ihm die Ärzte mit dieser Maßnahme lediglich ein weiteres halbes Jahr Lebenszeit in Aussicht stellen konnten. Irgendwann fand Herr R. sogar zurück zu seiner humorvollen Art. Trotz aller gesundheitlichen Einschränkungen konnte er schließlich noch den ihm so wichtigen Bau seines Hauses vollenden, der nach der Diagnose seiner schweren Erkrankung vorerst ruhend gestellt war.
Mit großer Begeisterung fertigte der gelernte Tischler die Möbel an und machte auch sonst vieles selber. Die Krankheit veränderte zu seiner Überraschung seine Persönlichkeit grundgehend. „Früher war ich sehr hart im Nehmen. Alles wurde mit Kraft und Stärke bewältigt. Die Kraft wurde weniger, aber es ist eine neue Weichheit in mir entstanden und viel Gefühl. Heute bin ich sehr schnell gerührt.“ Herr R. verstarb später in seinem gerade erst bezogenen neuen Haus im Beisein seiner Frau.
Aus dem Buch “Die Zeit der letzten Wünsche”