Lasst mich daheim
Der letzte Wunsch von Ernst S.
„Lasst mich daheim, ich will dort nicht mehr hin“, hatte der Vater von Anita S. zu seinen Familienmitgliedern gesagt. „Dort“, damit war das Krankenhaus gemeint. Bei Ernst S. wurde Krebs im Gallenhauptkanal diagnostiziert. Zuvor waren ihm bereits mächtige Gallensteine entfernt worden. Für die Tochter und seine Gattin bedeutete seine Pflege zu Hause eine enorme physische und psychische Belastung. Es ging aber letztenendes um nicht weniger, als den letzten Wunsch von Ernst S. zu erfüllen, nämlich im eigenen Heim, im Kreise seiner Familie, sterben zu dürfen.
Es war Herbst 2003. Ernst S. und seine Frau kehrten gerade von einem Urlaub zurück. Der 75-Jährige machte einen überaus fitten Eindruck. Seine Frau war dennoch besorgt und bat ihn wegen plötzlich gelb gefärbter Augen einen Arzt zu konsultieren. Gelbe Augen können ein mögliches Symptom für Störungen durch Gallensteine sein, die zu einem Rückstau der Gallenflüssigkeit führen. Der Gallenfarbstoff Bilirubin im Blut wird dabei nicht mehr ordentlich ausgeschieden und sammelt sich daraufhin im Körper an. Und tatsächlich mussten Ernst S. die Gallensteine operativ entfernt werden.
Als seine Frau, damals am Gang des Krankenhauses auf den Bericht des Arztes nach der Operation wartete, ereignete sich ein schockierender Vorfall, der ihre Tochter heute noch in Rage bringt. Der Primar sei die völlig unvorbereitete ältere Dame zugegangen und habe lapidar gemeint: „Frau S., ich muss Ihnen leider sagen, da geht nichts mehr. Noch einige Tage, einige Wochen, maximal das ein oder andere Monat.“ Danach habe er die völlig geschockte Frau alleine und hilflos auf dem Flur zurückgelassen, ohne sich um sie zu kümmern oder für eine Begleitung in dieser schwierigen Situation zu sorgen. Ihre Tochter versteht bis heute nicht, wie man als leitender Arzt der besorgt wartenden Frau eine derart drastische Diagnose einfach so „im Vorbeigehen“ eröffnen kann. „Den hätte man in der Pfeife rauchen können, das war menschlich völlig daneben.“ Später sei dann aber doch ein Oberarzt gekommen und habe ihre Mutter in einen separaten Raum mitgenommen. Ganz im Gegensatz zu seinen gefühlskalten Vorgesetzen hätte sich dieser dann sehr einfühlsam und rührend um sie bemüht.
„Ab diesem Zeitpunkt begann der Leidensweg“, erzählt Anita S. Ihre Mutter sei jeden Tag ins Krankenhaus gefahren, auch wenn ihr Mann eigentlich viel Ruhe gebraucht hätte. Lange wäre die Mama mit quälenden Fragen beschäftigt gewesen, etwa ob sie wohl auch alles richtig gemacht habe, ob sie ihrem Mann immer genug Unterstützung gewesen sei und dergleichen mehr. Mehr als beruhigende Floskeln hätte in dieser schwierigen Phase aber auch die Tochter nicht beitragen können, war sie doch selbst nicht minder bestürzt und ratlos über diese plötzlich eingetretene, sehr traurige Situation.
Als es Ernst S. immer schlechter ging, äußerte er den unbedingten Wunsch, nach Hause zu wollen. Seine Familie holte ihn aus dem Krankenhaus zurück in die eigenen vier Wände. Operationen wollte er keine mehr über sich ergehen lassen. Zum wiederholten Male hätte man ihm einen „Stent“ (eine Gefäßstütze) implantieren wollen. Dabei handelt es sich um ein kleines Gittergerüst in Röhrchenform, das die durch Tumoren verursachten Verengungen im Gallenhauptkanal wieder dehnen sollte. Er lehnte ab. Daraufhin ging bei Familie S. ein Anruf aus dem Krankenhaus ein. Der Patient habe seinen Operationstermin nicht wahrgenommen, wo er denn sei, wollte man wissen. „Ich habe ihnen gesagt, dass mein Vater nicht kommen will“, erzählt Frau S. weiter. Ob sie das verantworten könne, lautete die erneut sehr kühle und mit arrogantem Unterton vorgetragene Frage. Sie antwortete knapp: „Ja, das kann ich.“
Gemeinsam mit ihrer Mutter kümmerte sich Anita S. fortan um den Vater. Eine Alternative wäre nicht in Frage gekommen. Ihre beiden Geschwister konnten sie nicht unterstützen, da sie aus beruflichen Gründen kaum in der Lage waren, sich Zeit dafür zu nehmen. Außerdem hatte ihr Bruder in letzter Zeit kein sehr gutes Verhältnis zu seinem Vater mehr gehabt. Die innerfamiliären Konflikte zwischen den beiden waren von einer Intensität, die eine jähe Aussöhnung schlicht unmöglich machten.
Anita S. hingegen hatte mit ihrem Vater immer alles ausgesprochen. Es gab nichts, das zwischen ihnen stand. „Dadurch konnte ich ihn viel freier begleiten.“ Privat war Ernst S. nie ein Mann der vielen Worte gewesen. In der Öffentlichkeit konnte er laut seiner Tochter aber ohne weiteres einen ganzen Saal unterhalten und schien ständig zu Scherzen aufgelegt. Hingegen erlebte man ihn daheim nur als „Oberschweiger“. Wenn Leute sie darauf ansprachen, was für einen lustigen Vater sie doch habe, klang dies befremdlich. „Obwohl ich immer gut mit meinem Vater ausgekommen bin. Schon als ich noch ein Kind war, saßen wir gemeinsam auf einem Stein, schauten in einen Bach und keiner sagte etwas. Das war aber nicht schlimm für mich. Es genügte uns, dass der andere da war. Das war dann auch am Krankenbett und später am Totenbett so.“
Ihrer Mutter sei es allerdings bedeutend schwerer gefallen, mit dieser Verschwiegenheit ihres Ehemannes umzugehen. Sie habe immer gedacht, ihm würde es besser gehen, wenn er sich ihr gegenüber mehr öffnen und sich mitteilsamer zeigen könnte. „Ich habe zu ihr gesagt, lass ihn, warum sollte er sich denn jetzt noch ändern?“, berichtet die Tochter.
Die Individualität, die Menschen auszeichnet, behalten sie in aller Regel bis zu ihrem Lebensende bei. So habe ihr Vater auch nie mit seinem Schicksal gehadert, weder als er die Diagnose erfuhr noch danach. „Mein Vater sprach mit niemandem darüber. Er wollte das mit sich selber ausmachen.“ Aber auch wenn Ernst S. zeitlebens sehr schweigsam blieb, so schien es ihm doch besonders wichtig zu sein, in seinen letzten Wochen und Tagen von seinen Lieben begleitet zu werden.
„Es ist nicht schön, wenn man nicht helfen kann“, erklärt Frau S. Ihr Vater sei sein Leben lang ein sehr gesunder Mensch gewesen. Er war immer ein großer, stattlicher Mann und knapp vor seinem Tod wog er dann nur noch 45 Kilogramm.
Anita S. ist eine erfolgreiche Unternehmerin, steht gewissermaßen mit beiden Beinen voll im Leben und musste schon mehrere Schicksalsschläge erdulden. Auf die Frage, ob sie eine Erklärung dafür suche, warum gerade ihr all dies passiere, reagiert Frau S. relativ gelassen: „Es ist ja nicht mir passiert, es ist den anderen passiert“.
Mit ihrem ersten Mann war sie zwar nicht lange verheiratet, aber über Jahrzehnte hindurch auch nach der Scheidung freundschaftlich sehr verbunden. Vor rund zehn Jahren fiel er nach einer Herzattacke als knapp 50-Jähriger ins Wachkoma. „Als ich ihn besuchte, waren Leute an seinem Bett, die nur gejammert und Negatives gesprochen hatten. Ich denke, man müsste vorsichtig sein, worüber man spricht. Nachgewiesen ist es ja nicht, aber es gab schon Menschen, die aus dem Wachkoma zurückkamen und berichteten, sie hätten alles mitbekommen, was rund um sie geschehen sei. Wenn ich mich zu ihm ans Bett setzte und sagte, erinnerst du dich noch an dieses und jenes, drehte er manchmal seinen Kopf herum, seine Augen zitterten und fixierten mich. Etwa für zehn Sekunden, dann war er wieder weg.“ Mehr als zwei Jahre lang lag dieser ihr so nahe stehender Mann im Wachkoma, bevor er verstarb.
„Als Tochter und als Kind akzeptiert man es, dass der Vater gehen muss“, ist sie überzeugt. Es sei zwar furchtbar, man vermisse ihn, aber es handle sich dennoch nicht um den Lebensgefährten. Stirbt hingegen der langjährige Partner, werde einem schmerzlich bewusst, was dieser alles für das gemeinsame Leben bedeutet habe. Eine Witwe in höherem Alter habe es dann besonders schwer. So wie in diesem Fall ihre Mutter. Sie kann nicht mehr mit dem Auto fahren, der Garten macht viel Arbeit und überfordert sie zusehends. Was man in gewohnter Manier, über Jahrzehnte hinweg durch geteilte Aufgaben gemeinsam bewältigt hat, müsse danach plötzlich ganz alleine und mit altersbedingten Handikaps bewältigt werden.
Ernst S. stammte aus Tirol, zog später aber nach Salzburg. Die Grabstelle seiner Familie lag in Folge dessen mehr als 40 Kilometer entfernt von seinem nunmehrigen Wohnort. Obwohl ihm das Grab immer viel bedeutet hatte, sagte er bei einer Familienfeier zu seiner Frau, sie solle es auflösen. „Er wollte einfach vermeiden, dass meine Mutter die Mühe auf sich nehmen müsste, regelmäßig mit einem Bus zum Grab zu gelangen, um es zu pflegen.“ Demnach sei es für ihren Vater völlig in Ordnung gewesen, in Salzburg bestattet zu werden. War auch sein Herz stets in der alten Heimat verankert geblieben, erschien es ihm offenkundig wichtiger, in der Nähe zu seiner Frau begraben zu sein.
Anita S. sah ihren Vater nur zweimal weinen. „Einmal habe ich gesehen, dass mein Vater geweint hat. Das war, als mein Bruder geboren wurde.“ Das zweite Mal ließ er seinen Gefühlen erst wieder kurz vor seinem Tod freien Lauf. Zwei Anlässe, die unterschiedlicher nicht sein können und zwei Begebenheiten, die Frau S. wohl nie vergessen wird.
Jedes Jahr zu Weihnachten, und das seit Jahrzehnten, schenkte er seiner Ehefrau zusätzlich zu anderen Präsenten einen großen Strauß roter Rosen und ein bekanntes Parfüm. „Sie liebte das“, erzählt Anita S. Es war der 20. Dezember 2005 und ihrem Vater sei es schon sehr schlecht gegangen. Er rief seine Tochter zu sich in den ersten Stock und bat sie: „Anita, hier ist das Geld. Die Mutti soll auch heuer das bekommen, was sie immer zu Weihnachten kriegt“. Seine Tochter versprach ihm die beiden Dinge verlässlich bis Weihnachten zu besorgen.
Als der 24. Dezember gekommen war, konnte er wegen seines schlechten Gesundheitszustandes nicht mehr ins Erdgeschoss hinunter getragen werden. „Das Haus war diesbezüglich etwas blöd gebaut. Die letzten Nächte habe ich am Bodenbett neben ihm geschlafen. Wenn er aus dem Bett fiel, weil er zum Teil noch so starke Kräfte mobilisierte, mussten meine Mutter und ich ihn wieder gemeinsam dorthin zurückbringen“, erinnert sich Frau S. Zu Weihnachten lag ihr Vater dann in seinem Bett. Im Arm die roten Rosen und das eingepackte Parfüm. Anita S. bat ihre Mutter, sie möge zurück in den ersten Stock gehen, ihr Mann würde dort schon auf sie warten.
Aus organisatorischen Gründen hatte die Familie im Zimmer des Vaters eine Sprechanlage installiert, um ihn auch im Erdgeschoß zu hören, wenn er etwas benötigte. Aus dieser Sprechanlage vernahm Anita S. an diesem letzten gemeinsamen Weihnachtsabend, wie beide herzzerreißend weinten. „Ich hatte nicht bedacht, dass mein Vater mit dem kleinen Päckchen und den Rosen in der Hand wie aufgebahrt im Bett lag.“
Einige Tage zuvor hatte sich Ernst S. bei seiner Tochter erkundigt, warum er eigentlich nicht gehen könne, warum sein Herz so stark sei. Ganze drei Wochen lang wollte er schon nichts mehr essen und auch nichts trinken. Diese Verhaltensweise ist bei kranken älteren Menschen allerdings nichts Ungewöhnliches. Immer wieder hört man von Sterbenden, die über sehr lange Zeiträume nichts zu sich nehmen möchten. Lediglich ihre Lippen werden benetzt und sie überleben dennoch bedeutend länger, als aus rein medizinischen Gesichtspunkten heraus anzunehmen wäre.
Seine Frau fragte ihn irgendwann, ob sie einen Pfarrer holen solle. Der könne ihm gestohlen bleiben, antwortete ihr schwer kranker Mann darauf. „Mein Vater hat immer gesagt, am Berg oben bin ich dem Herrgott am nächsten. Die Kirche brauche ich nicht.“ Die Mutter hingegen sei stets fest im katholischen Glauben verankert gewesen. Ein einziges Gebet gab es aber dennoch, das ihm wichtig war. „Ich bekomme eine Gänsehaut, wenn ich daran denke. Wir haben gemeinsam mit ihm das Vaterunser gesprochen.“
Die Begleitung ihres Vaters bis kurz vor seinem Ableben, vor allem aber auch ihm den Wunsch erfüllen zu können, seine letzten Tage daheim bei seiner Familie bleiben zu dürfen, waren für Anita S. „sehr wertvolle Erfahrungen“. Auch wenn man schlussendlich mit seinen Kräften am Ende ist und eigentlich nicht mehr kann, bleibt doch ein Gefühl der Dankbarkeit und Demut, wie man es wohl in keiner anderen Lebenslage zu verspüren vermag. „Ich habe keine Angst vor dem Tod, nur vor dem Sterben“, betont sie im Zuge der Schilderung des Momentes, als ihr Vater diese Welt verließ. Seither ist sie überzeugt: „In exakt dem Moment, in dem der Mensch stirbt, ist er nicht mehr Mensch. Man sieht ihm an, dass er weg ist. Mit dem was übrig ist, braucht man kein Erbarmen mehr zu haben. Das ist nichts außer einer Hülle“.
Sein Begräbnis sollte nach dem ausdrücklichen Wunsch ihres Vaters von einer ganz bestimmten Musikkapelle begleitet werden. Auch, dass sein bester Freund anwesend sei, bedeutete ihm sehr viel. Seit die beiden sechs Jahre alt waren, verband sie eine enge Freundschaft. Mehr als sieben Jahrzehnte später stand dieser Weggefährte am Grab und flüsterte zum Abschied: „Wir werden uns bald wieder sehen, liebster Freund.“ Auch er wusste damals bereits von seinem eigenen Prostatakrebsleiden.
Unmittelbar nach dem Tod ihres Vaters habe sie wie ferngesteuert „funktioniert“, meint Anita S. rückblickend. Sie verständigte ihre Geschwister telefonisch, rief das Bestattungsunternehmen an und bat ihren Bruder, die Mutter zu trösten. Den Trachtenanzug habe die Mutter damals schon vorbereitet gehabt. Jenen, den ihr Mann immer so gerne getragen hatte. Und die von ihr selber gestrickten Socken natürlich. Der Bruder war vor dem Tod des Vaters doch auch noch von Zeit zu Zeit alleine bei ihm gewesen. Offensichtlich hatten sie einiges zu bereden und gemeinsame Schwierigkeiten aus der Welt zu schaffen. Ob ihnen dies letztendlich auch gelungen ist, weiß Frau S. allerdings bis heute nicht.
Aus dem Buch “Die Zeit der letzten Wünsche”