Im Rollstuhl zum Rockfestival und mit dem Flugzeug zum Heiler

Das Interview mit Frau Klaudia Fleck, der Psychotherapeutin des Helga-Treichl-Hospizes Salzburg (nunmehr Raphael Hospiz Salzburg) im Sommer 2012, war sehr aufschlussreich. Im Dezember sollte noch ein zweites Treffen stattfinden. Im Foyer auf sie wartend, bot sich eine gute Gelegenheit, den „laufenden Betrieb“ des Hauses zu beobachten und die tolle Aussicht zu genießen.

Die Tage zuvor hatte es sehr viel geschneit. Die ausgedehnten Grünflächen rund um das Hospiz waren an diesem Tag, der sich zudem durch ein besonderes Datum auszeichnete, von einer frischen, sahnig weißen Schneemasse bedeckt. Es war der 12.12.2012. Die Sonne schien durch die riesigen Fenster des Hauses, in dem eine ganze Wand bis in das zweite Geschoß beinahe ausschließlich aus Glasflächen besteht.

Ein Mann saß in seinem Rollstuhl direkt davor und beobachtete eine schwarze Katze, rief ihr nette Worte zu, während sie versuchte, sich in der Nähe des Gebäudes ihren Weg durch den Schnee zu bahnen. Er trug eine dunkelblaue Wollmütze und eine Brille. Es entwickelte sich bald ein ursprünglich relativ belangloses Gespräch über die Faszination dieses „Postkartenwetters“. Eine derart idyllische Schneelandschaft kombiniert mit blauem Himmel und Sonnenschein gibt es in der Stadt Salzburg nämlich eher selten.

Bald erkundigte sich der Herr über den Hintergrund des Besuches. Die Idee von unserem Buchprojekt gefiel ihm. Er habe Ende August von den Ärzten die Krankheit Amyotrophe Lateralsklerose (kurz: ALS) diagnostiziert bekommen, erzählte er. Dabei handelt es sich um eine Erkrankung des motorischen Nervensystems. Die Ursache der Krankheit ist völlig unbekannt. Fortschreitend kommt es dabei zu einer irreversiblen Schädigung der Nervenzellen, die für die Muskelbewegungen verantwortlich sind. Es treten Lähmungen und eine zunehmende Muskelschwäche auf, die insbesondere zu Störungen beim Gehen und schließlich beim Schlucken führen, aber auch zu einer Schwäche der Arm- und Handmuskulatur. Die Bewältigung einfachster täglicher Verrichtungen wird zunehmend schwerer und ist in der finalen Phase ohne fremde Hilfe kaum noch zu bewältigen. ALS ist unheilbar.

Der Mann im Rollstuhl mit blauer Mütze und seiner extravaganten Brille stellte sich als Anton S. vor. Er war 54 Jahre alt und erklärte sich gerne dazu bereit, uns ebenfalls ein Interview zu geben, das wir für den nächsten Tag verabredeten.

Alle Hospizmitarbeiterinnen und Mitarbeiter kannten Anton S. als äußerst kommunikativen und offenherzigen Menschen. Das spiegelte sich auch in unseren Dialogen wider. Für eine gute Unterhaltung muss die Chemie zwischen den Gesprächspartnern stimmen. Das war hier sicherlich der Fall. Unser erstes Treffen begann um 16 Uhr als Interview, nach wenigen Minuten waren wir per du und es endete gegen 23 Uhr auf einer sehr persönlichen Ebene. In den nächsten Wochen und Monaten trafen wir uns mehrmals. Die Unterhaltungen verliefen stets vertrauensvoll und geradezu freundschaftlich. Herr S. spannte in seinen Erzählungen den Bogen gekonnt von heiteren Episoden bis zu äußerst tragischen Begebenheiten und meinte einmal nebenbei, er würde ein Buch über sein Leben „Just an ordinary life“ betiteln.

Seit drei Monaten lebte der Patient damals in einem geräumigen Zimmer des Hospizes, in dem er sich mit einer Menge Bücher und CDs eigentlich ziemlich komfortabel eingerichtet hatte. Noch gut erinnerte er sich an seine Volksschullehrerin und bezeichnete es als großes Glück, in ihrer Klasse unterrichtet worden zu sein. Er hätte auch Pech haben können. Dann wäre der Direktor, welcher die Nebenklasse unterrichtete, sein Lehrer geworden. Ein Mann der alten Schule mit einem von beinahe militärischem Drill geprägten Unterrichtsstil. Glücklicherweise sei ihm aber von „seiner“ bezaubernden Lehrerin die Welt der Bücher eröffnet und ihm die Faszination des Lesens nähergebracht worden. Einmal habe sie ihm und seiner Zwillingsschwester ein Zitat in schöner kalligraphischer Schrift ins Poesie-Album geschrieben:  „Wir sind nur Schauspieler in einem Stück, in dem ein anderer Regie führt“. Anton S., der – wie er selbst sagte – aus einem eher bildungsfernen Milieu stammt, wurde schließlich zu einem begeisterten Leser mit besonderer Vorliebe für Gedichte.

Das Werk „Minima Moralia“ des Philosophen Theodor W. Adorno lag stets griffbereit auf seinem Tisch. Der Hospizpatient bat jeden seiner Besucher daraus den Text „Umtausch nicht gestattet“ zu lesen. Unter seinem Bücherstapel fand sich unter anderem auch „Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen“, eine Abhandlung über den Umgang der Lebenden mit dem Tod, die als eine Aufforderung gilt, offener über das Ende des Lebens zu sprechen.

Vor dem Einschlafen lag Herr S. meistens im Bett, setzte seine Kopfhörer auf und lauschte Bruno Ganz mit Gedichten des deutschen Lyrikers Friedrich Hölderlin sowie des Franzosen René Char. Satz für Satz sprach er mit und schlief regelmäßig am Ende der einstündigen CD ein.

Erste Symptome der Krankheit hätten sich erstmals rund drei Jahre vor unserem Gespräch gezeigt. Als er aus dem Bett stieg, habe er plötzlich heftige Krämpfe im Unterschenkel gespürt und vom Hausarzt „das Übliche“ verschrieben bekommen. Vor dem Fernseher sitzend, seien etwas später plötzlich seine Zehen nicht mehr zu bewegen gewesen, „aus dem nichts, einfach so“. Der 54-Jährige spricht Klartext und macht keine Umschweife, was seinen Gesundheitszustand betrifft. „Bei der Diagnose sagten mir die Ärzte, dass ich noch circa sechs Monate hätte. Drei davon sind schon vergangen.“

Nicht nur einmal habe man ihm zu Beginn seiner Krankheit unterstellt, ein Simulant zu sein. Lange hätte es gedauert, bis ihm „offiziell“ beschieden wurde, dass er tatsächlich unter einer schweren Krankheit leide. Ob Herr S. eigentlich berufstätig sei, wäre die erste Frage seines Arztes damals gewesen. „Ist das denn diagnoserelevant?“, habe er geantwortet. Immer wieder könne man speziell bei älteren Ärzten jene abgeklärte Distanz und Kühle beobachten, die betroffene Patienten auf eigentümliche Weise einschüchtere und durchaus verletzend wirke. Etwa habe er vor zweieinhalb Jahren, als es ihm noch einigermaßen gut gegangen war, seinem Arzt die Hand zum Abschied gereicht und sei sogleich in belehrendem Ton rüde zurechtgewiesen worden: „Drücken Sie nicht so fest zu, sonst bekommen Sie wieder Krämpfe!“

Im Hospiz würde er sich nun den Umständen entsprechend wohl fühlen. Sein Alltag gestalte sich hier beinahe routiniert, aber und meistens eben auch wenig aufregend. „Zum Glück habe ich Freunde. Ich lebe davon, dass sie mich besuchen. Später bin ich sowieso 14 Stunden alleine im Bett und rede mit niemandem, außer mit meinen lieben Toten. In Spanisch und Englisch. Ich sehe auch fern oder ziehe mir eine CD rein. Manchmal ist jemand vom Nachtdienst bei mir, mit dem ich mich unterhalten kann.“ Er bekäme gute Medikamente. Angstlösend, schlafanstoßend, blutverdünnend, schmerzstillend und stimmungsaufhellend. Trotzdem seien die Schmerzen immer da. „Es gibt bessere und schlechtere Phasen. Ich muss darauf achten, dass mir alle drei Stunden jemand die Füße durch bewegt. Wenn ich das vergesse, habe ich am Abend Schmerzen, dass mir zum Schreien ist.“

Im Vergleich zu seiner vorhergehenden Bleibe, die er süffisant als „Fegefeuer“ bezeichnete, wäre es im Hospiz geradezu wie im Paradies. Als seine finanziellen Mittel, den Pflegedienst in den eigenen vier Wänden aufrecht zu erhalten, ausgeschöpft waren, musste Anton S. nämlich seine Wohnung aufgeben und in ein öffentliches Senioren- und Pflegeheim umziehen. „Welche Alternative hatte ich?“, fragte er und antwortete sogleich: „Gar keine.“ Wenn er über das Seniorenheim sprach, wurde er emotional, aufgebracht und wütend. Er beschwerte sich über die dort herrschenden, keineswegs zeitgemäßen hygienischen Verhältnisse, vor allem aber über die mangelnde Rücksichtnahme auf seine quälenden Schmerzen. Das Essen wäre vollkommen ungenießbar gewesen, weshalb er bei einer Körpergröße von 1,81 Meter dort auf 49 Kilogramm abgemagert sei und permanent unter heftigen Schweißausbrüchen gelitten habe. „Lange hätte ich Ihnen damals nicht mehr gegeben“, sagte sein Hausarzt später zu ihm.

In Folge mangelnder Bewegung kam es immer wieder zu massiven Verstopfungen. „Morgen gehörst du der Katz“, hörte er dann von einer für den Einlauf zuständigen Krankenschwestern. In seiner beklemmenden Situation habe er für diese Art von Humor naturgemäß kein Verständnis aufbringen können. Dies umso weniger, als es danach oft stundenlang gedauert hätte, bis er von seinen Exkrementen befreit und gewaschen wurde. Das Pflegepersonal sei offenkundig heillos überlastet und völlig demotiviert gewesen.

Hatte das Essen wieder einmal nach Desinfektionsmittel geschmeckt und übel gerochen, sei ihm von Freunden hin und wieder ein Salat oder eine Pizza vorbei gebracht worden. Dies wäre allerdings von den Mitarbeitern des Seniorenheims nicht gerne gesehen und meistens mit flapsigen Sprüchen wie „Ist der Herr S. vielleicht etwas Besseres?“ kommentiert worden.

1.400 Euro habe er für das wenig ansehnliche Zimmer in diesem Haus bezahlen müssen. „Auf dem freien Mietmarkt würde man für so einen Wucher verklagt“, geriet er entgegen seiner an sich ruhigen Art plötzlich in Rage. Man habe ihn auf der zweithöchsten Pflegestufe eingestuft. Über 180 Pflegestunden hätte man sich ihm demnach pro Monat widmen müssen. „Die haben sich pro Tag etwa eineinhalb Stunden um mich gekümmert.“ Die tatsächliche Pflege umfasste bei ihm also lediglich rund 45 anstatt der vorgeschriebenen und bezahlten 180 Stunden.

Die Freude wäre deshalb entsprechend groß gewesen, als er das Seniorenheim schließlich verlassen konnte. Im Hospiz sei es ihm gelungen, innerhalb von drei Monaten wieder bis auf ca. 65 Kilogramm Gewicht zuzulegen.

Während unseres ersten, siebenstündigen Gespräches tranken wir Kaffee und einige Achterl Wein. Anton S. scherzte häufig auf die ihm eigene ironische Art und mit einem geradezu entwaffnend schwarzen Humor, der vorwiegend auf sich selbst und seine nunmehrigen Lebensumstände gerichtet war.

Obgleich sich Herr S. im Hospiz an sich sehr wohl fühlte, hatte er auch hier seine Schwierigkeiten mit der Einhaltung diverser Regeln, speziell der Hausordnung. Beispielsweise hielt er sich mit Vorliebe in der Küche auf, die für Patienten eigentlich nicht zugänglich ist. Auch kam es nicht selten vor, dass er mit den im Hospiz tätigen Damen auf einer ziemlich persönlichen Ebene zu scherzen beliebte. Anton S. machte sie dadurch verlegen. Dennoch gelang es ihm nicht selten auf diese Weise einen spaßigen Dialog zu entwickeln. Er selber war hingegen nicht so schnell einzuschüchtern, hatte scheinbar immer einen lässigen Spruch auf Lager und mit dieser eigentümlichen Mischung aus Charme und Humor in seinem bisherigen Leben durchaus Erfolg bei Frauen.

Anton S. rauchte seit seinem 18. Lebensjahr. Gegenüber sitzend jonglierte er meistens eine Zigarette geschickt in seinen Mund. Dabei trotzdem deutlich zu sprechen, bereitete ihm keine Mühe. Wenn es nun darum ging, die Asche loszuwerden, beugte er sich über den Aschenbecher und bewegte seine Lippen so lange, bis sie vom Ende der Zigarette abgefallen war. Für das Jahr 2013 hatte sich der Patient dennoch zwei wichtige Vorsätze zurechtgelegt: Weniger zu rauchen und weniger zu reden. Wenigstens eine Schweigestunde pro Tag habe er dem Personal versprochen.

Die Frage, ob es denn für ihn Unterschiede gäbe, in den Wünschen gesunder oder schwer kranker Menschen, beantwortete Herr S. mit merkwürdiger Gelassenheit: „Die Wünsche sind dieselben, nur bekommen sie eine ganz andere Wichtigkeit. Je abhängiger man selber ist, umso weniger wird es vorstellbar, dass einem so weit geholfen wird, dass man nicht komplett an seiner Verzweiflung zu Grunde geht. Die Leute hier herinnen sind in einem unvorstellbaren Ausmaß in der Lage, Hilfe zu leisten. Ich empfinde hier eine Dankbarkeit, wie ich sie mein Leben lang noch nicht empfunden habe.“

Als besonders eindrucksvolles Beispiel dafür diene eine Begebenheit beim Frühstück. Mehr als eine Stunde lang sei es ihm an einem Morgen nicht gelungen, die Hände zum Tisch anzuheben, bis er sich angewidert von seiner eigenen Hilflosigkeit endlich doch entschlossen habe, an der Glocke zu läuten. Ein Pfleger, mit dem er zuvor durchaus schon in Konfliktsituationen aneinandergeraten sei, wäre daraufhin in sein Zimmer gekommen und habe seine verzweifelte Lage sofort erkannt. „Das Wasser stieg mir in die Augen. Der Pfleger kam auf mich zu, griff mir an die Schulter und sagte, ich solle ihn bitte ansehen. Wir werden ihre Arme und Hände sein, sagte er zu mir und während er sprach, gab er mir ganz nebenbei das Frühstück. So, als ob ich es selber zu mir nehmen würde – nur schöner, als ich es tat, während ich noch gesund war.“ Diese unbeschreibliche Empathie und Güte, wie sie in dieser beeindruckenden Geste zum Ausdruck kam, ist geradezu bezeichnend für den behutsamen Umgang mit Gebrechen und Bedürfnissen der Bewohner von Hospizeinrichtungen. Das findet täglich statt, unbeachtet von der breiten Öffentlichkeit. Dabei könnte uns allen gerade diese Art von Menschlichkeit Lehre, Vorbild und Ansporn sein.

Obwohl ihn seine Krankheit einschränkte, war Anton S. stets bemüht, regelmäßig Ausflüge zu unternehmen. Ein paar Tage nachdem das Jahr 2013 begonnen hatte, wollte er sich mit der Bahn auf den Weg nach Wien machen. Sein Trip sollte ihn ins Hotel Mercure am Westbahnhof führen. Dort wollte er einen guten Freund besuchen. Als dann aber kurz nach dem Jahreswechsel plötzlich hohe Fieberschübe auftraten, war an eine Reise in die Bundeshauptstadt nicht mehr zu denken.

Wien diente ihm schon manches Mal als eine Art Zufluchtsort. Liefen die Dinge in Salzburg nicht ganz rund, bot ihm die Großstadt in ausreichendem Maße willkommene Abwechslungen, um auf andere Gedanken zu kommen. Es verbanden ihn mit diesem Ort aber auch viele Erinnerungen. Etwa als er sich Hals über Kopf in eine tolle Frau verliebt und um vier Uhr früh den Entschluss gefasst hatte, die erste Nacht mit ihr gemeinsam zu verbringen. Die Suche nach einem adäquaten Hotel gestaltete sich entsprechend schwierig. Schließlich mussten sie mit einem sehr einfachen Zimmer Vorlieb nehmen, das bezeichnenderweise mit einer roten Glühbirne ausgestattet war.

Die Gespräche mit Anton S. fanden in seinem Zimmer im Hospiz statt. Wir saßen an einem quadratischen Tisch, auf dem sich einige CDs stapelten. Am liebsten höre er Gedichte, aber auch die Musik spielte immer schon eine große Rolle in seinem Leben. Alben von Barry White, Neil Young, Leonhard Cohen, Johnny Cash und Portishead fanden sich in der Sammlung. Er mochte vor allem Interpreten mit tiefgründigen Songtexten, am besten untermalt mit Gitarrenklängen und besonders gerne live. Grund genug für Anton S., im Sommer 2012 nach St. Pölten zum dreitägigen Frequency-Festival aufzubrechen.

Er hatte damals bereits große Schwierigkeiten, seine Hände zu bewegen und saß im Rollstuhl. Hilfsbereite Menschen waren entsprechend wichtig für ihn. Zum Bahnhof wurde er vom Samariterbund gebracht und lernte auf der Zugfahrt eine sympathische Dame kennen, die um die 40 Jahre alt gewesen sein dürfte. Im Laufe des Gespräches stellte sich heraus, dass es sich um eine Altenfachbetreuerin handelte. Ursprünglich wollte die Dame weiterfahren, entschloss sich dann aber spontan, ebenfalls in St. Pölten auszusteigen und ihm behilflich zu sein.

Danach sei das nächstes Problem aufgetaucht: „Wie komme ich nun auf das Gelände des Festivals?“. Wie so oft, sei er dann aber mit jemandem ins Gespräch gekommen, der ihm auch dazu eine Lösung anbot. Dieser Herr wäre tätowiert, kahlköpfig und rund 1,85 Meter groß gewesen. Hinter seiner hünenhaften Erscheinung hätte sich allerdings ein überaus mitfühlendes Wesen verborgen. Gemeinsam machten sie sich in einem Shuttlebus auf zum Veranstaltungsort. Beim Festivalgelände angekommen, ergaben sich weitere Komplikationen, weil Herr S. noch kein Eintrittsticket besaß und man seine Master-Card nicht als Zahlungsmittel akzeptieren wollte. Auf sein Argument, „Die Karte nehmen sie sogar im Hotel Sacher“, hätten die Bediensteten am Kartenschalter nur lapidar gemeint, es ginge leider trotzdem nicht.

Er tat ihnen aber offenbar leid und so machten sie schließlich einen Wiener ausfindig, der ihn unterstützen wollte. Dieser fuhr nicht mit einem gewöhnlichen Fahrzeug vor, sondern mit einem riesigen Geländewagen der US-amerikanischen Marke Hummer. Man hob den Salzburger ins Auto und machte sich auf den Weg zu einem Geschäft, das noch Tickets vorrätig hatte und auf Kreditkartenkunden eingerichtet war. „Die Verkäuferin kam extra mit dem Bankomatgerät zum Wagen heraus“, erinnert sich der Interviewpartner gerührt. Die Mission sei also trotz aller Schwierigkeiten letztendlich geglückt und dem Zutritt zum Festivalgelände stand nichts mehr im Wege.

Unter den tausenden Besuchern befanden sich vorwiegend junge Leute. Einer der Ordner kam auf Anton S. zu und meinte, es gäbe auch behindertengerechte Plätze auf einer Plattform, von wo aus man gut auf die Bühne sehen könne. Er habe dieses freundliche Angebot aber dankend abgelehnt. „Ich wollte mich in den Massen bewegen und die Vibrations spüren.“ Außerdem habe er sein Fernglas mit dabei gehabt.

Der 54-Jährige lernte sodann eine Gruppe junger Mädchen und Burschen aus München kennen, die ihm in weiterer Folge auf geradezu rührende Art behilflich waren. Sie brachten ihm Getränke, etwas zu essen und schoben ihn von einem Event zum anderen. „Ich war so gerührt von diesen Jugendlichen aus München. Auf meine Frage, warum sie das alles für mich tun würden, meinte ein Mädchen namens Johanna einfach: Das sind die Werte, die uns unsere Eltern mitgegeben haben. Erlebnisse wie dieses Festival geben mir Kraft. Dort bin ich selber wieder jung geworden“. Jemand hätte ihm sogar angeboten, eine Bleibe für die Nacht zu organisieren. Er habe es aber bevorzugt, „durchzumachen“ und den ersten Zug um fünf Uhr morgens zurück nach Salzburg zu nehmen.

Dort angekommen, fuhr Herr S. in das für seine kunstfertig hergestellten Mehlspeisen bekannte Café Fingerlos und traf dort zufällig einen guten Bekannten, der ebenfalls auf einen Rollstuhl angewiesen ist. Er lud ihn ein, mit ihm zu frühstücken. So fand sein aufregendes Abenteuer einen überaus gemütlichen Abschluss, den er auf eine ganz spezielle Weise mindestens ebenso zu genießen wusste, wie den Triumph über seine krankheitsbedingten Handikaps.

Ende November 2012 beschloss Anton S. an den Geistheilungstagen im Salzburger Messezentrum teilzunehmen. Dort trat nämlich der berühmte Heiler Joao Teixeira da Faria auf, der von seinen Bewunderern auch Joao de Deus (Johann Gottes) genannt wird. In den letzten fünfzig Jahren soll der aus einem kleinen Dorf in Zentralbrasilien namens Abadiania stammende Mann mehr als acht Millionen Menschen behandelt und von allen erdenklichen Krankheiten geheilt haben.

Die ganze Veranstaltung kam mir zwar so vor, als wäre ich bei Scientology, was mir aber egal war, denn in meiner Situation habe ich nichts mehr zu verlieren. Bei der Heilung anwesend zu sein, hat mir Kraft gegeben. Das weiß ich. Irgendetwas hat der in mir entflammt“, so Anton S. Früher habe er nicht länger als vier Stunden am Stück in seinem Rollstuhl sitzen können und sich danach immer völlig entkräftet ins Bett begeben müssen. Jetzt schaffe er aber durchaus wieder zwölf Stunden und mehr.

Es fiel ihm die Geschichte von einem seiner Freunde ein, der nach dem Besuch bei einem Heiler wieder völlig genesen sei. Schulmedizinisch hatte man dem Patienten, der im Endstadium an Darmkrebs erkrankt war, keine Überlebenschancen mehr eingeräumt. Durch alternative Methoden sei es trotzdem so weit gekommen, dass dieser Freund heute unter keiner Krankheit mehr leide. „Die Schulmedizin ist bei mir am Ende der Fahnenstange angekommen. Zu Beginn hatte es noch so ausgesehen, als hätte ich eine Autoimmunerkrankung, wobei man noch etwas hätte machen können. Dann ist es aber wieder gekippt und es wurde ALS diagnostiziert, scheiße“, haderte Anton S. mit seinem Schicksal und wünschte sich sehnlichst, noch einmal nach Brasilien fliegen zu können, um dort erneut Joao Teixeira da Faria aufzusuchen.

Aus dem Buch “Die Zeit der letzten Wünsche”