Gesundheit, Wertschätzung und Zuneigung

Sterben und alt werden findet immer seltener im gewohnten Umfeld oder im Kreise der Familie statt. Viele verbringen ihren letzten Lebensabschnitt in Krankenhäusern oder Pflegeheimen. Ihre Empfindungen dabei sind ambivalent. Während manche ein großes Problem damit haben, ihre eigenen vier Wände verlassen zu müssen, sehen es andere als große Erleichterung, sich nicht mehr mit dem Haushalt abmühen zu müssen und endlich wieder vermehrt neue soziale Kontakte knüpfen zu können.

Sehr aufschlussreich war zu dieser Thematik das Gespräch mit Herrn Wolfgang Reischl, dem leitenden Pfleger des Seniorenheimes Wals-Siezenheim, in der Nähe der Stadt Salzburg. Schon seinen Zivildienst absolvierte er im selben Haus, sodass er im Alter von 33 Jahren bereits über eine rund 15-jährige Erfahrung in der Betreuung älterer Menschen. Er berichtet, das Pflegepersonal bemühe sich durchaus, mit den Heimbewohnern auch über Privates ins Gespräch zu kommen. Speziell bei der so genannten Biographieerhebung sei dies von großer Bedeutung. Es gehe darum, die Interessen und Hobbys der Bewohner zu ergründen, um bei einer eventuell später eintretenden Demenz darauf gebührend Rücksicht nehmen zu können.

An erster Stelle stehe regelmäßig der Wunsch, entweder gesund zu bleiben oder wieder gesund zu werden. Erst danach folgten weitere Anliegen. „Die Bewohner wünschen sich auch soziale Kontakte und mehr Besuche von ihrer Familie. Es gibt viele, die vereinsamt sind. Für uns gilt es, dann speziell auf diese Leute zu achten. Manche möchten aber auch alleine sein und verzichten gerne auf Gesellschaft.“ Gerade zu Weihnachten hätten die meisten ihre Familie gerne um sich. Sie litten dann oft schwer darunter, wenn sie alleine bleiben und sich partout kein Besuch einfinden wolle.

Die meisten Bewohner würden laut Herrn Reischl außerdem noch jener Generation angehören, die den Zweiten Weltkrieg miterlebt haben. Das sei für viele eine sehr prägende Erfahrung gewesen. Sie erzählen dann über ihre Gefangenschaft, über Kriegshandlungen oder über die klirrende Kälte, die sie „an der Ostfront“ erdulden mussten. Auch reumütige Berichte darüber, was mancher im Krieg besser nicht gemacht hätte, würden ihm von Zeit zu Zeit anvertraut. Ein ehemaliger Bewohner, der an Demenz litt, habe seine Gegenwart plötzlich wieder so erlebt, als befände er sich immer noch im Krieg. Beinahe täglich sei er am Balkon gestanden, lautstark seine Umgebung vor dem unmittelbar bevorstehenden Einmarsch der Russen warnend.

Herr Reischl erzählte einigen Bewohnerinnen vom gegenständlichen Buchprojekt und erkundigte sich, ob sie uns allenfalls auch gerne ein Interview geben möchten. Drei Damen nahmen diesen Vorschlag bereitwillig an.

Bernadette L. ist 81 Jahre alt. Besonders freut sie sich, wenn ihre Familie zu Besuch kommt oder wenn es im Seniorenheim eine Feier gibt, beispielsweise zu Silvester. Dann wird Sekt getrunken und es gibt verschiede Aufstriche. In ihrer Jugend habe sie nur wenig erlebt, zumal sie mit 11 Jahren gestürzt sei und sich dabei eine schwere Verletzung zugezogen habe. Trotz permanenter Beeinträchtigung wäre sie erst mit 17 Jahren operiert worden. Die Schmerzen seien geblieben und hätten sich sogar noch verschlimmert. Deshalb habe sie lange Zeit keiner Arbeit nachgehen können.

Frau L. ist Mutter zweier Töchter und eines Sohnes, mehrfache Großmutter und Urgroßmutter. Jede Woche bekomme sie Besuch. „Im Seniorenheim geht es mir wirklich gut, ich fühle mich sehr wohl hier. Am Anfang, als ich herkam, musste ich Tag und Nacht fürchterlich weinen. Ich dachte, ich sei eingesperrt. Nach einem Jahr wurde aber alles leichter. Ich gehe viel spazieren und öfters auch zum Einkaufen“, so die 81-Jährige. Gerne helfe sie den anderen Bewohnern und bereite beim Frühstück alles nach deren Wünschen zu. Das Frühstücksbuffet sei besonders am Sonntag sehr beeindruckend. Dann gäbe es Schinken, Eier und Orangensaft.

Anfang der 1990er Jahre sei ihr Ehemann, den sie zu Beginn der 1950er Jahre geheiratet hatte, verstorben. Die Ehe habe jedoch nicht bis zuletzt gehalten. Er habe sich oft bösartig und aggressiv gezeigt, was aber nicht heiße, dass er sie geschlagen hätte. Es hätte aber alles immer nach seinen Vorstellungen ablaufen müssen. Ein Sterbebild ihres ehemaligen Mannes hängt dennoch an der Wand neben ihrem Bett. Gleichwohl er sie während aufrechter Ehe ziemlich schlecht behandelt haben dürfte, ist er offenbar doch immer noch ein gewisser Anker für ihre Erinnerungen an eine längst vergangene Zeit, die in manchen Phasen wohl auch ihr Gutes hatte.

Neue Liebe hätte es danach aber keine mehr in ihrem Leben gegeben. „Ich könnte mir das nicht vorstellen und bin froh, dass ich meine Ruhe habe. Das interessiert mich gar nicht.“ Wenn sie schmerzfrei sei, gehe es ihr gut, dann lese sie vor allem gerne Zeitungen und Illustrierte.

Frau Heidi F. lebt im gleichen Haus in einem geräumigen Zimmer mit direktem Zugang in den Garten. Frau F. ist 66 Jahre alt und bereits seit 1985 Bewohnerin des Seniorenheimes. Von Geburt an leidet sie unter spastischen Lähmungen und ist gehbehindert. An einer der Wände in ihrem Zimmer hängt ein Schwarz-Weiß-Foto, auf dem eine junge Heidi F., ihre Großmutter, ihre zwei Brüder und einer der Freunde eines Bruders abgebildet sind. In schwarzen Blockbuchstaben steht darauf geschrieben: „ERINNERUNG AN EINE SCHÖNE ZEIT – 1965“.

Früher sei sie als Sprecherin für gehandikapte Menschen tätig gewesen, weshalb sie häufig in der Stadt Salzburg unterwegs gewesen wäre. „Ich hatte viel mit Politikern zu tun und habe reihenweise Briefe im Sinne behinderter Menschen geschrieben. Immer noch gibt es zahlreiche Zonen und Gebäude, die nicht barrierefrei sind“, konstatiert die resolute Dame nicht ohne Bitternis. Zehn Jahre lang habe sie sich als Behindertensprecherin für die Anliegen Betroffener eingesetzt und freue sich noch heute sehr über jenen persönlichen Brief, den sie als Dank vom damaligen österreichischen Bundespräsidenten Rudolf Kirchschläger für ihr unermüdliches Engagement erhalten habe.

Nachdem Frau F. 30 Jahre alt geworden war, hatte sie immer wieder unter Schwermut und Selbstmordabsichten gelitten. Sie fühlte sich ausgelaugt und in keiner Weise mehr leistungsfähig. Von Seiten der Krankenkasse riet man ihr, in Pension zu gehen. Also führte sie anschließend den Haushalt, in dem sie gemeinsam mit ihrem Vater lebte, wobei er zeitlebens nie zufrieden mit ihr gewesen sei. „Er war sehr streng, erst während der letzten Jahre seines Lebens, als er selber krank geworden war, haben wir uns besser verstanden. Er zog dann nach Vorarlberg und ich habe immer wieder telefonisch Kontakt mit ihm aufgenommen“, erzählt die 66-Jährige nicht ohne Verbitterung. Bei den Gesprächen sei er, der mittlerweile unter Alzheimer litt, immer relativ kurz angebunden gewesen. Zuletzt hätten sie sich dann Jahre lang überhaupt nicht mehr gesehen.

Ihre depressiven Phasen, in denen ihr einfach nur „alles egal“ gewesen sei, habe sie mit Hilfe eines sehr guten Arztes, der später zu einem wichtigen Vertrauten geworden ist, in den Griff bekommen. Letzten Endes fasst sie aber auch ihre momentane Situation mit dem in Seniorenheimen häufig gehörtem Satz zusammen: „Ich wünsche mir einfach, dass es nicht schlechter wird“.

Nie hätte Frau Irene K., 75 Jahre alt, gedacht, einmal in einem Seniorenheim leben zu müssen, erklärt die dritte Gesprächspartnerin an diesem Abend. Erst seit fünf Monaten wäre sie hier. Daheim sei eben daheim, an ein Seniorenheim müsse man sich erst einmal gewöhnen. Bei einem Sturz habe sie sich schwer an der Hüfte verletzt. Seither benötige sie Unterstützung beim Waschen und Anziehen.

In meiner Jugend habe ich immer sehr viel Sport betrieben. Ich fuhr viel mit dem Rad, ging häufig laufen und schwimmen. Vielleicht habe ich es übertrieben, denn schon als Kind hatte ich Probleme mit den Gelenken.“ Geheiratet habe sie kurz vor ihrem 20. Geburtstag. „Das war eine schöne Zeit. Ich hatte einen braven Mann, mit dem ich 35 Jahre verheiratet war. Leider ist er sehr krank geworden und 1990 verstarb er dann an Krebs.“ Neun Monate sei er im Krankenhaus gelegen und habe währenddessen viele medizinische Bücher gelesen. „Ihr braucht gar nicht so leise zu sprechen, ich weiß, dass ich Krebs habe“, habe er einmal lautstark protestiert. Er hätte es sich ihr gegenüber aber nie anmerken lassen, wenn es ihm schlecht ging und beschwichtigte immer nur: „Mir geht es gut, mach dir keine Sorgen“. „Er geht mir ab, rund um die Uhr“, so Frau K., deren Mann erst 57 Jahre alt war, als er verstarb.

Die 75-Jährige hat einen Sohn und ein Enkelkind. Sie benötige ständig Hilfe und sei froh, dass es das Seniorenheim gebe. „Ich hoffe, dass es nicht schlechter wird bei mir, dass ich geistig fit bleibe und in der Früh immer aufstehen kann.“ Im „mittleren Alter“ habe sie großen Wert auf ihre Fitness gelegt. Sie sei eine ziemlich hübsche, 1,72 Meter große Frau gewesen, die nur 54 Kilogramm wog. Heute wären hingegen Probleme mit den Knochen, den Gelenken und ihren ständig schmerzenden Knien zu beklagen. 1997 sei ihr erstes künstliches Kniegelenk und 2003 das zweite implantiert worden. Früher habe sie auch sehr gerne gekocht. Ihre Spezialität wären vor allem Süßspeisen gewesen. „Mein Mann hat mich für meine Kochkünste immer gelobt. ‚Einmalig’ hat er gesagt und ‚super’, wenn er über meine Fähigkeiten geschwärmt hat.“

Neben dem Wunsch nach sozialer Geborgenheit und einem funktionierenden Familiensystem scheint vielen Menschen vor allem auch Wertschätzung besonders bedeutsam zu sein. In der Retrospektive spielen sogar die Aufmerksamkeit und das Lob, das man vor vielen Jahren einmal für seine Verdienste erhielt, eine große Rolle. Nicht umsonst lernen Manager in Führungspositionen bei Fortbildungsseminaren, wie wichtig es ist, den Mitarbeitern ein Lob auszusprechen und Pädagogen in ihrer Ausbildung von der Wirkung des positiven Bestärkens bei Schülern. Auch im Alter ändert sich an diesen Motivationsgrundsätzen wenig. Wertgeschätzt zu werden – und das in allen möglichen Belangen – tut der Seele einfach gut.

Im Seniorenheim befinden sich auch einige Paare. Generell spielt die Liebe, und zwar keineswegs nur die platonische, im fortgeschrittenen Alter durchaus eine beachtliche Rolle. „Es gibt im Seniorenheim zumindest auch ein Liebespaar, das nicht verheiratet ist. Früher mussten wir lachen, denn entweder ging er zu ihr oder sie besuchte ihn in seinem Zimmer. Sie hatten dabei immer die Vorhänge offen. Ein Bewohner schlich sich immer zum Fenster und schaute hinein. Heute geht das nicht mehr. Der Mann ist mittlerweile über 100 Jahre alt und sie hat ordentlich an Körperfülle zugelegt“, berichtet eine Bewohnerin mit großem Vergnügen und verschwörerischem Blick, als spreche sie über verbotene Vorkommnisse in einem Mädchenpensionat.

Herr Wolfgang Reischl, der leitende Pfleger, erzählt ebenfalls von einer mittlerweile verstorbenen 99 Jahre alten Bewohnerin, die dreimal verheiratet war. Sie mochte die Männer sehr gerne und flirtete mit jedem Pfleger. „Eigentlich sagt man das ja gerne den Männern nach, aber sie hat das Gegenteil bewiesen. ‚Hallo, mein Süßer’ sagte sie und ,Hast Du denn ein süßes Mädchen zu Hause?‘ Manchmal wurde sie auch direkter: ,Legst Du Dich zu mir?‘ Sie war körperlich noch immer mobil. Für die Gleichaltrigen interessierte sie sich aber weniger. Eher für die Jüngeren“, meint Herr Reischl sichtlich immer noch amüsiert.

Liebschaften unter den Bewohnern und gemeinsame Übernachtungen von Pärchen im gleichen Zimmer seien längst nichts Ungewöhnliches mehr. Trotzdem handle es sich weiterhin um ein gewisses Tabu, selbst wenn bei der Pflegeausbildung schon offener über das Thema Sexualität im Alter gesprochen werde. Früher, in den meist von katholischen Nonnen geleiteten Heimen, seien derartige Liebschaften natürlich strengstens verboten, aber wohl auch nicht gänzlich zu unterbinden gewesen.

Gewiss verändern sich die Verhältnisse auch dadurch, dass nun zunehmend Damen und Herren der so genannten 68er-Generation in die Seniorenheime einziehen. Der Redakteur Jörg Böckem etwa wies in einem Artikel im „Spiegel“ darauf hin, dass sexuelle Bedürfnisse vor allem bei Demenzerkrankten häufig wieder aufflammen würden. Er berichtet von Frau Nina de Vries, deren Treffen mit Herrn Josef K. jedes Mal auf ähnliche Weise begann. „Hallo, ich bin Nina, ich mache Massage“, stellt sich die Frau Ende vierzig vor. Auch bei ihrem zehnten Besuch. „O ja, schön“, antwortet ihr der Mann, Mitte sechzig in einem Berliner Pflegeheim, meistens sehr erfreut. Nina de Vries ist Sexualassistentin und besucht ihn etwa alle sechs Wochen. Er lernt sie jedes Mal aufs Neue kennen, denn Herr K. ist dement.

Aus dem Buch “Die Zeit der letzten Wünsche”