Die letzten Gespräche

Immer dann, wenn ein lila Schild an der Tür eines Patienten angebracht ist, bedeutet dies für die Kolleginnen, dass sich Elisabeth Helminger im Zimmer befindet. Sie ist Seelsorgerin im Helga-Treichl-Hospiz (nunmehr Raphael Hospiz Salzburg) und bietet den Patienten an, über das zu sprechen, was sie beschäftigt. Sie gibt keine Themen vor, will keine Patienten bekehren oder sie spirituell in bestimmte Richtungen lenken. Es entwickeln sich Dialoge, über deren Inhalt ausschließlich die Patienten selbst bestimmen sollen. Häufig tritt dabei zu Tage, dass es Menschen beschäftigt, ob und gegebenenfalls wie sie mit ihren Verwandten über den eigenen bevorstehenden Tod in angemessener Weise kommunizieren sollen. Die ehemalige Patientin Barbara E. machte sich beispielsweise vor allem Gedanken darüber, in welcher Form sie am besten mit ihrer Tochter und ihrem ältesten Enkelsohn ein Gespräch führen könne.

Frau E., mit 50 Jahren eine sehr junge Großmutter, hatte vier Enkelkinder. Alle im Alter zwischen drei Monaten und sechs Jahren. Sensibilität war vor allem im Umgang mit dem sechsjährigen Enkelsohn gefragt, dem sie noch so vieles zu sagen gehabt hätte. Wie aber mit einem Sechsjährigen über den unmittelbar bevorstehenden Tod seiner Omi sprechen? Außerdem wollte sie ihm zum Abschied auch noch ein Geschenk machen.

Frau E. litt an Lungenkrebs und ihr Enkelsohn hatte ständig mit Asthma zu kämpfen. Sie kannten also beide, wie es sich anfühlt, wenn man keine Luft bekommt. Elisabeth Helminger besorgte ihr schließlich das Kinderbuch „Über den großen Fluss“, das der Großmutter den Einstieg zum Thema des Abschiednehmens erleichtern sollte. „Es wurde offensichtlich, dass der Enkel schon längst Bescheid wusste, dass seine Omi sterben wird. Er war ganz stolz auf das Buch und rettete es vor seinen Geschwistern“, erinnert sich die Seelsorgerin während unseres Gespräches.

„Über den großen Fluss“ stellt eines von mehreren hundert deutschsprachigen Kinderbüchern dar, die Abschied, Tod und Trauer zum Gegenstand haben. „Vor 20 Jahren gab es gerade einmal zwei Bücher, die Kindern das Thema Sterben näher brachten“, berichtet Frau Helminger. Das Buchcover zeigt einen liebevoll gezeichneten Hasen, der einen Waschbären innig umarmt. Vielleicht ist es Zufall, dass der eine grün, der andere rot gekleidet ist. Die Farbe der Hoffnung und Zuversicht prallt auf die Farbe der Liebe. „Ich muss jetzt gehen“, sagt der Hase im Buch. „Und ich kann dich nicht mitnehmen.“ Der Abschied für immer macht den Waschbären sehr traurig. Text und Bilder räumen dieser Trauer Raum ein, erzählen aber zugleich davon, wie die Zurückgebliebenen sich gegenseitig beistehen und wie sie aus ihren Erinnerungen an den Hasen neuen Mut schöpfen. Ein schwerer Tag vergeht, der die Freunde einander aber auch näher bringt, bevor sie schließlich etwas getröstet einschlafen. Eine Geschichte, die sehr berührend und kindgerecht von der Hoffnung über den Tod hinaus erzählt.

Als die Patientin Wochen später kaum mehr auf ihre Umgebung reagierte, suchte ihre Tochter das Gespräch mit Frau Helminger. Die 25-jährige Frau und ihr ebenfalls junger Lebensgefährte kamen zum vereinbarten Termin. Der kleinste Enkel im Alter von ein paar Monaten war auch mit dabei. Frau Helminger hörte zu und fragte nach, wie es ihr, der Tochter, denn so gehe. Dann begann die junge Mutter über ihren Zweitältesten zu sprechen. Die Seelsorgerin erkundigte sich, ob der Dreijährige über den nahen Tod der Großmutter denn auch schon Bescheid wisse. „Das würde er nicht verkraften“, entgegnete diese ihr. Frau Helminger bestärkte die beiden Eltern darin, dennoch der Frage auf den Grund zu gehen, was für ihren Sohn die schonendste Vorgehensweise sein könnte. Auch sie verfügt nämlich keineswegs über einen unerschöpflichen Fundus allgemeingültiger, für alle Situationen passender Rezepte.

Und so überlegten die drei gemeinsam, welche Erklärungen der Bub allenfalls gut aufnehmen würde, ohne die Gegebenheiten allzu sehr zu verharmlosen. „Meine Erfahrung, auch als Mutter, im Umgang mit Kindern zeigt, dass es gut ist, sich die Gesprächssituation und die Worte, die man gebrauchen kann, schon im Vorhinein möglichst gut vorzustellen. Kinderfragen können sehr direkt und klar sein“, so Elisabeth Helminger.

Als die Großmutter dann starb, konnten ihre Tochter, deren Lebensgefährte und der älteste Enkel bei ihr sein. Dem Hospizteam und den Angehörigen wurde zu dieser Zeit viel abverlangt. An diesem Tag starben nämlich noch zwei weitere Patienten. Die Raumsituation war völlig ausgereizt, weil ja alle Angehörigen auch Platz für „Auszeiten vom Sterbebett“ benötigen. „Dennoch war die Begleitung von Frau E. in sich stimmig und rund“, so die Seelsorgerin.

Frau Helminger erzählt von einer weiteren Patientin. Die 40-Jährige befand sich bereits in der so genannten finalen Phase. In diesem Zustand kann es eine Reihe von Anzeichen geben, mit denen sich die letzten Stunden oder Tage vor dem Ableben ankündigen. So wollen Patienten beispielsweise oft aufstehen, greifen viel nach oben, verspüren den Drang, sich auszuziehen oder die Bettdecke weg zu schieben, werden von Unruhe erfasst und dergleichen. Umgekehrt ist auch zu beobachten, dass manche Menschen in dieser Situation eine starke Müdigkeit und Teilnahmslosigkeit ergreift. Sie reagieren kaum noch auf Reize, räumliche und zeitliche Orientierungslosigkeit tritt ein, Schlafphasen verlängern sich, teilweise bis hin zum Koma, Beine und Arme werden kalt, da die Durchblutung nachlässt, manchmal begleitet von Fieberschüben und Schweißausbrüchen.

Ihre Mutter, die beste Freundin Jasmin K. und deren sechsjährige Tochter saßen am Sterbebett der 40-Jährigen. Im Gespräch mit der Freundin erfuhr Frau Helminger von einer zweiten, vierjährigen Tochter, die man an diesem aber Tag nicht mitgenommen hatte. Sie hieß Regina und war das Patenkind der Patientin. Nicht zuletzt deshalb dürften die beiden eine sehr innige Beziehung zueinander gehabt haben.

Die Seelsorgerin fragte auch in diesem Fall nach, ob Regina über den bevorstehenden Tod ihrer Patentante Bescheid wisse. „Nein, sicher nicht. Ich wüsste auch überhaupt nicht, wie ich mit dieser Nachricht umgehen sollte“, war die Reaktion ihrer Mutter. Frau Helminger bot ihr an, Regina zu holen. Gemeinsam könnten sie die Vierjährige informieren. Die drei setzten sich in ein Extrazimmer und die Seelsorgerin begann Regina ebenfalls das Buch „Über den großen Fluss“ zu zeigen.

Ich muss mich auch von meiner Patentante verabschieden, weil sie sterben wird“, sagte die Kleine dann plötzlich. „Ihre Mutter war total überrascht, ihr kamen die Tränen. Ich sagte zu Regina: Deine Mama ist ganz traurig, weil sie auch Abschied nehmen muss von deiner Patentante“, so Frau Helminger, die überzeugt ist, dass es für Kinder besonders wichtig sei, in wenigen Worten zu beschreiben, was sie wahrnehmen und ein ehrliches Feedback zu erhalten, ob ihre Wahrnehmung auch richtig ist. Sie fragte also Regina, ob sie sich denn heute von ihrer Patentante verabschieden möchte. „Sie wollte es und sie wollte ihr außerdem ein Abschiedsgeschenk mitgeben.“ Regina hatte gemeinsam mit ihrer Schwester, ihrer Mutter und ihrer Patentante schöne Reisen erlebt. Ein Bild, das eine Szene aus einem dieser Urlaube zeigt, sollte zum letzten Geschenk werden.

In der Zwischenzeit äußerte die Mutter der Patientin, sie wolle die Krankensalbung für ihre Tochter. Jasmin K. pflichtete ihr bei und fand ebenfalls, dass dies gewiss im Sinne der Freundin sei. „Von ihr selbst bekam ich keine Antwort mehr“, erzählt die Seelsorgerin. Bevor sie mit Regina zur Patientin ging, erklärte sie der Vierjährigen, was es mit den aufgebauten Gerätschaften, mit der Schmerzpumpe und dem Sauerstoffgerät auf sich habe und warum ihre Patentante wahrscheinlich nicht mehr reagieren werde. Regina konnte dadurch relativ unbefangen ins Zimmer gehen. Das Mädchen nahm die Sterbende an der Hand, die mit ihren Fingern darauf reagierte. Regina erzählte ihr von Erlebnissen aus dem Kindergarten, vom Bilderbuch, das sie soeben gesehen hatte und von dem Bild, das sie ihr schenken möchte.

Kinder wollen meist nur kurz bei sterbenden Menschen sein, aber Regina war anders“, so Elisabeth Helminger. Das Mädchen wünschte vielmehr ebenso wie ihre Mutter bei der Krankensalbung mit dabei zu sein. Reginas Großmutter, die extra gekommen war, um ihre Enkelin noch vor der Salbung abzuholen, ging unverrichteter Dinge wieder heim. Der Pfarrer kam und spendete das Sakrament. „Regina wusste, was sie wollte, sie war die ganze Zeit geblieben“, schildert die Seelsorgerin das eher ungewöhnliche Verhalten des Kindes. Ein Jahr später traf sie Regina und ihre Mutter im privaten Umfeld zufällig wieder. Sie fragte nach, wie das Mädchen den Aufenthalt am Sterbebett im Nachhinein empfunden habe. „Es war sehr wichtig für sie, dort gewesen zu sein“, antwortete darauf ihre Mutter. Offenbar hatte man gemeinsam einen passenden Weg gefunden, diese für alle Beteiligte äußerst schwierige und traurige Situation zu bewältigen, der sich auch für die kleine Regina als richtig herausstellte.

Aus dem Buch “Die Zeit der letzten Wünsche”