6 von 100 Jahren

Interview mit Herrn Marko Max Feingold, dem Leiter der Israelitischen Kultusgemeinde Salzburg

99 Jahre und 144 Tage war Herr Marko Max Feingold alt, als unser Interview in seinem Büro in der Salzburger Synagoge geführt wurde. Inzwischen hat er am 28. Mai 2013 seinen 100. Geburtstag gefeiert.

Der Leiter der Israelitischen Kultusgemeinde Salzburg überlebte vor mehr als 67 Jahren den Horror von vier Konzentrationslagern. Auschwitz, Neuengamme, Dachau und Buchenwald. Körperlich konnte er diese schreckliche Zeit relativ gut überwinden. Seine Gedanken sind aber immer noch geprägt von zahlreichen Erinnerungen an die grässlichen Jahre in Gefangenschaft. „Es gibt so viele Zufälle, die verantwortlich dafür sind, dass ich am Leben geblieben bin.“ Herr Feingold war durch die Schreckensherrschaft der Nazis schon als junger Mann viele Jahre hindurch mit Todesängsten, fürchterlichen Schicksalsschlägen sowie einer Vielzahl von Morden und Todesfällen in seiner unmittelbaren Umgebung konfrontiert. Lange Zeit lebte er permanent in größter Gefahr, Anspannung und Aussichtslosigkeit. „Immer die gleiche Angst, einem SS-Mann zu begegnen, der einen aus nichtigen Gründen hätte erschießen können.“ Seinen unbändigen Willen zu überleben konnte man trotzdem nicht brechen. Er wollte keinesfalls aufgeben. Schließlich hätte man ansonsten ja nur einen Stacheldraht an der Grenze des Lagers in die Hände nehmen müssen und es wäre vorbei gewesen, wie Herr Feingold mit einer lässigen Handbewegung veranschaulicht.

Heute gilt der noch immer unglaublich rüstige Jubilar als wichtiger Zeitzeuge, der täglich mit großem Engagement gegen das Vergessen ankämpft. Ein paar tausend Vorträge habe er seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges gehalten. „Ich warne Schüler vor jeder Diktatur, egal ob von links oder von rechts.“ Herr Feingold spricht während des gesamten Interviews mit ruhiger Stimme. Der Mann klingt beinahe gelassen, obwohl man ihm anmerkt, dass er leidenschaftlich für seine Sache eintritt. Nur einmal wird Herr Feingold plötzlich laut. Zwei Wochen vor unserem Interview habe ihn eine der beiden österreichischen Regierungsparteien eingeladen. Welche, das wolle er nicht verraten. Es sei ihm der Vorschlag unterbreitet worden, an der geschichtlichen Aufarbeitung der Kriegsjahre mitzuwirken. Zeitzeugen sollten nämlich unbedingt in dieses Projekt eingebunden werden. Da wurde der 99-Jährige wild: „Wen wollen Sie holen, die Zeitzeugen? Es gibt ja gar keine mehr, sie sind ja alle schon gestorben. Zu lange habt ihr euch Zeit gelassen, ich bin der Einzige, der noch lebt und ich werde euch nicht zur Verfügung stehen!“ Über 60 Jahre lang habe man versäumt, bis zu dieser Einladung. Drei- oder viermal hätte man in dieser Zeitspanne wohl um den Erdball marschieren können, merkt er wütend in seiner unnachahmlich energischen Weise an, um sich in derselben Sekunde wieder zu fassen.

Genauso schnell, wie dieser plötzliche Groll auftrat, verschwindet er auch wieder bei der Frage, was das Leben denn heute für ihn ausmache, was ihm Freude bereite. „Ich genieße es, wenn ich zum Beispiel beim Mittagessen in einem Gasthaus sitze und dann kommt eine Frau auf mich zu. Sie sagt: ‚Sie werden mich nicht kennen, Herr Feingold, aber ich war vor 35 Jahren bei einem Ihrer Vorträge, das war wirklich schön.’ Es gibt eine Unmenge von Leuten, die sich mein Gesprochenes gemerkt haben, die meine Vorträge aufmerksam verfolgt haben. Das ist die Freude am Leben“.

Immer noch sei er sehr viel unterwegs, um von seinen sechs Jahren in den unterschiedlichsten Konzentrationslagern zu berichten. Stets scheinbar ohne Hass und immer mit einer gesunden Portion Humor. Auch am Tag unseres Interviews kündigte sich für die Mittagszeit der Besuch einer Schulklasse bei ihm an. Am Abend sollte noch eine Lesung aus seinem Buch „Wer einmal gestorben ist, dem tut nichts mehr weh – Eine Überlebensgeschichte“ folgen mit zahlreichen Besuchern und spannenden Gesprächen danach in jener Buchhandlung, von der die Lesung organisiert wurde.

Geboren wurde Herr Feingold in der heutigen Slowakei, wuchs in Wien auf und begann mit 14 Jahren eine Lehre zum kaufmännischen Angestellten, die er bereits nach zwei Jahren abschließen konnte. Gemeinsam mit seinem Bruder Ernst war er in den 1930er Jahren als Reisender unterwegs, unter anderem auch als Vertreter für Flüssigseifen im faschistischen Italien. 1938, nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich, wurden die beiden verhaftet.

Den Gestapo-Beamten ging es vor allem darum, ihres Vaters habhaft zu werden, der sich zu dieser Zeit im ehemaligen Jugoslawien aufgehalten hatte. Fünf Tage lang wurden die beiden jungen Männer festgehalten, wiederholt misshandelt und massiv bedroht. „Wenn euer Vater kommt, seid ihr frei“, hatte man ihnen später in Aussicht gestellt. „Hätten Sie Ihren alten Vater ausgeliefert?“, fragt Herr Feingold plötzlich und genießt dabei sichtlich die Beklemmung und Betroffenheit, die er durch diese entwaffnende Frage bei seinem Interviewpartner auslöst. „Sehen Sie, das ist der Unterschied. Die zwei jungen Gestapo-Beamten, beeinflusst von der Erziehung der Nationalsozialisten, waren der Meinung, die Familie zählt nicht. Wir waren natürlich dafür, dass sich unser Vater ja nicht blicken lassen sollte.“ Obwohl die beiden Feingold-Brüder kein Wort darüber verloren hatten, wo sich ihr Vater aufhielt, wurden sie später doch noch freigelassen. Allerdings mit der Auflage, Österreich sofort zu verlassen.

Wenn man Menschen danach fragt, was ihr Herz erfüllt, kommen sehr häufig ähnliche Antworten: Liebe, Beziehung, Kinder, Familie, Begegnungen, Natur, Lachen, Kunst und kreative Arbeit. Der schwer kranke US-amerikanische Professor für Soziologie, Morrie Schwartz, der sich seines bevorstehenden Todes schon geraume Zeit vorher bewusst war und 1995 schließlich verstarb, meinte auf die Frage, was wirklich wichtig im Leben sei: „Wenn Du nicht die Unterstützung, die Liebe, die Aufmerksamkeit, die Sorge einer Familie spüren kannst, hast Du nicht sehr viel im Leben. Nichts auf der Welt kann das ersetzen. Das Geld nicht. Der Ruhm nicht. Der Job nicht. Denn ohne die Liebe sind wir Vögel mit gebrochenen Flügeln.“

Familiärer Zusammenhalt stand auch für die Feingold-Brüder selbst in schwierigsten Situationen stets an erster Stelle. Beide entschlossen sich zur Flucht nach Prag. Von dort wies man sie vorübergehend bis zu ihrer Rückkehr mit gefälschten Papieren nach Polen aus. 1939 wurden die Herren erneut gefasst und sodann ins Konzentrationslager Auschwitz deportiert. „Uns allen wurde immer wieder gesagt, dass keiner das Konzentrationslager lebend verlassen werde. Ab 1943 wurde es noch intensiviert, ein KZ-Häftling dürfe nie lebend in die Hände der Alliierten fallen. Wir lebten dahin. Man malte sich aus, wie der letzte Tag aussehen könnte“, erzählt Herr Feingold sichtlich immer noch betroffen.

In Auschwitz hätte es geheißen, man habe eine maximale Überlebensdauer von drei Monaten. Einer ganzen Reihe von glücklichen Umständen sei es aber zu verdanken gewesen, dass er, Marko Feingold, sechs Jahre in vier unterschiedlichen Konzentrationslagern dennoch überleben konnte. Von Auschwitz kamen er und sein Bruder Ernst in das Konzentrationslager nach Neuengamme in der Nähe von Hamburg.

Wie nach der Diagnose einer tödlichen Krankheit dürften sich die jungen Feingolds nach ihrer Verhaftung gefühlt haben – den Tod vor Augen. Fortan gab es nur noch ein einziges Ziel: „Zu überleben!“ Marko Feingold magerte auf 35 Kilogramm ab, fühlte sich ständig schwach und konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. In seinem Buch „Wer einmal gestorben ist, dem tut nichts mehr weh“, schreibt er über jene wohl schlimmste Zeit seines Lebens: „Körperlich war ich völlig am Ende. Ich sackte immer mehr und mehr ab, die Gedärme hingen mir beim After heraus. Ich hatte Mühe speziell beim Hinsetzen, da ich mich ja nicht auf meine Gedärme setzen konnte. Die musste ich – brutal gesagt – zuerst hineinschieben. Wenn ich Wasser trank, ging das durch, als ob man mir einen Schlauch durch den Körper gesteckt hätte. Oben hinein, gleich unten heraus. Wenn ich einen Bissen Brot in den Mund nahm, hatte ich das Gefühl, mein ganzer Mund sei voller Sand. Furchtbare Zustände. Ich habe später Ärzte gefragt, die hielten das alles nicht für möglich.“

Er hatte schwer zu kämpfen, wollte sich aber gleichzeitig vor seinem Bruder keine Blöße geben. Jeder machte dem anderen dabei etwas vor. „Na, es geht schon. Was sollte ich ihm denn sagen? Es geht nicht? Sollte er mit mir weinen? Wäre ich dann gesünder geworden?“ Es wurde ein Transport zusammengestellt mit Kranken und Schwachen, die in eine Strumpfstopferei nach Dachau gebracht werden sollten, darunter auch Herr Feingold. Am Abend vor der Abfahrt erhielt er zum ersten Mal einen ganzen Wecken Brot und eine Scheibe Margarine für den Transport. „In dieser Nacht kroch ich mit dem Brot hinüber zu meinem Bruder, brach ihm ein Stück davon herunter und ein Stück von der Margarine und blieb vielleicht zwei oder drei Stunden neben ihm liegen. Bevor es zu dämmern begann, so um drei oder vier Uhr früh, kroch ich auf meinen Platz zurück.“ Es war das letzte Ereignis, das er gemeinsam mit seinem Bruder Ernst erleben durfte. Sein Bruder starb 1942 im KZ, wo und wie seine beiden anderen Geschwister umgekommen sind, weiß er bis heute nicht. Marko Feingold und weitere KZ-Häftlinge wurden einwaggoniert.

Über Neuengamme und Dachau kam er mit einem Trupp gehbehinderter Häftlinge ins KZ Buchenwald. An einem sonnigen Tag stiegen sie in einer schönen Gegend aus. „Wir alle konnten kaum gehen und mussten vom Frachtbahnhof acht Kilometer zu Fuß auf den Berg hinauf. Man muss die Zähne zusammenbeißen, damit man das aushält. Wir wussten: Wer zusammenbricht, wird erschossen.“

Herr Feingold kritisiert im Interview immer wieder, dass bei Weitem zu wenig geschichtliche Aufarbeitung erfolgt sei. Viel zu viel sei verdrängt worden, viel zu viel vertuscht. „Es gibt Leute, die wissen, dass bei uns etwas nicht stimmt. Aber es sind zu wenige, die aufmucksen.“ Umso wichtiger scheint ihm seine Mission, sein Erlebtes öffentlich zu machen. Sein Wunsch bestehe darin, die Verbrechen des Nazi-Regimes nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. „Bis in den Tod hinein hat man die Juden in die Irre geführt. Um Tumulte nach der Desinfektion zu vermeiden, sagte man, merkt euch den Haken, an dem ihr eure Kleidung aufhängt. Man ahnte schon etwas, aber man meint, das ist es noch nicht. Die Frauen gingen allein in den Duschraum. Man verschloss die Tore, oben in der Decke sind zwei Löcher. Innerhalb von sechs bis zehn Minuten waren die Leute tot.“ Die Häftlinge zogen die Leichen hinaus. Die Goldzähne wurden ihnen herausgerissen, die Haare geschnitten und für Filzpantoffeln verwendet, die Kleidung sortiert nach den Kategorien sehr gut, gut und nicht mehr brauchbar.

Nach dem Krieg gelangte Herr Feingold durch Zufall nach Salzburg. Er half jüdischen Überlebenden bei der illegalen Durchreise über Salzburg und Italien nach Israel. Er eröffnete ein Modegeschäft und heiratete schließlich in der Mozartstadt. Seither lebt er mit seiner Frau hier.

Es gibt nichts Besseres als die Demokratie“, betont er bei all seinen Vorträgen und „Ich fühle mich als guter Österreicher. Ich bin Ehrenbürger von Salzburg. Das hätte sich ein Jude vor 100 Jahren nicht denken können.“

Aus dem Buch “Die Zeit der letzten Wünsche”